In der Schweiz brüten 210 Vogelarten, in ganz Europa 500. Mit ihrem Stimmorgan, der Syrinx, trällern, zwitschern, zirpen, pfeifen und krächzen sie bereits vor Tagesanbruch und teils bis in die späte Nacht. Aber wie lernen Vögel ihren Gesang? Ist Vogelgezwitscher wirklich «Musik»? Welche Bedeutung geben wir Menschen ihren Lautäusserungen? Mit diesen und weiteren Fragen hat sich ein interdisziplinäres Team aus Klangforscherinnen und Soundspezialisten der HSLU im Rahmen des Projekts «Seeking Birdscapes» auseinandersetzt. Sie arbeiteten dafür mit externen Partnern wie der Vogelwarte Sempach, der Stiftung BirdLife Luzern und dem Natur-Museum Luzern zusammen. (siehe Kasten)
Im Zentrum des Projekts stand die Beziehung zwischen Menschen und ihrer klingenden Umwelt, insbesondere die auditiven, akustischen und musikalischen Dimensionen von Klangräumen (Soundscapes), die von Vögeln geschaffen werden (Birdscapes). «Welche Klänge wir als angenehm und schön empfinden, hat viel mit geteilten Lebensräumen von Menschen und Vögeln sowie unseren Gewohnheiten zu tun. Daher haben wir die Klang-Umgebung des Menschen in ihren musikkulturellen, ökologischen und technologischen Zusammenhängen betrachtet», sagt Co-Projektleiterin und Klanganthropologin Patricia Jäggi.
Vogelstimmen prägen menschliche Biografien und Bewusstsein für die Umwelt
Über Interviews, Tonaufnahmen und Beobachtungen im Feld untersuchten die Forschenden das Erleben von Vogelstimmen sowie die Vorstellungswelten dahinter. Nebst eigenen auditiven Erfahrungen des Forschungsteams wurden dabei auch rund 30 Personen in der Schweiz, Katalonien und Island befragt, die sich der Vogelwelt und ihren Klängen verschrieben haben, darunter Ornithologinnen, Bioakustiker, Klangkünstlerinnen und Komponisten. «Es hat sich dabei zum Beispiel gezeigt, dass Hörerfahrungen sowohl die menschlichen Biografien als auch das Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge prägen», erklärt Projektleiterin und Ethnomusikologin Helena Simonett. So nehme jeder Mensch – ob Laie oder Experte – Vogellaute anders wahr. Die einen hören schon gar nicht mehr hin, wenn ein Vogel vor dem Fenster zwitschert, andere empfinden ihn als störenden Lärm und wieder andere erfreuen sich am lieblichen Gesang. Auch in der Musikgeschichte spielen Vogelstimmen eine grosse Rolle. Viele Komponistinnen und Komponisten haben sich vom Gesang der Vögel anregen lassen, etwa Beethoven, Tschaikowsky oder Messiaen, der selbst Ornithologe war.
Forschungs- und künstlerische Arbeit an einer Ausstellung und Konferenz erlebbar
In diesem Sinne, sagt Simonett, solle das Projekt das Bewusstsein für die Bedeutung von Vogellauten und die charakteristischen Klanglandschaften schärfen, die uns Menschen umgeben. In verschiedenen, teils klang- und musikwissenschaftlichen, teils künstlerischen Teilprojekten haben sich die Forscherinnen und Kunstschaffende dem Thema genähert – entstanden sind dabei Tonaufnahmen, Klangkompositionen, eine Performance, Filme und Vorträge, die im Rahmen einer Ausstellung im Natur-Museum Luzern (16.9. bis 3.11.2022) sowie an einer Konferenz an der HSLU (7./8.10.2022) zu erleben sind.
Seeking Birdscapes: Forschungsprojekt, Ausstellung und Konferenz
Das Forschungsprojekt «Seeking Birdscapes: Contemporary Listening and Recording Practices in Ornithology and Environmental Sound Art» der HSLU untersucht seit 2019 die klangliche Beziehung zwischen Menschen und Vögeln. Das Projekt wird unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und dem Interdisziplinären Themencluster (ITC) «Raum und Gesellschaft» der HSLU. Projektpartner sind die Vogelwarte Sempach, die Stiftung BirdLife Luzern und das Natur-Museum Luzern. Das Projekt umfasst verschiedene, teils klang- und musikwissenschaftliche, teils künstlerisch-vermittelnde Arbeiten:
Kultur- und Klanganthropologin Patricia Jäggi erforschte die gemeinsamen auditiv-klanglichen Lebenswelten von Vögeln und Menschen, u.a. in Island. Unter dem Titel «Sonic Habitat: Von Soundscapes als klingende Lebensräume» gibt sie auf der Projektwebsite einen Einblick.
Ethnomusikologin Helena Simonett befasste sich unter anderem mit dem «begrifflichen Dilemma», ob die Lautäusserungen von Vögeln überhaupt als Musik gehört werden können und setzte sich mit der grundlegenden Definition des Begriffes «Musik» auseinander.
Der Frage, was Vogelgesang mit unserem menschlichen Wohlbefinden zu tun hat, widmet sich Natalie Kirschstein in ihrem Teilprojekt «Well-being und Ökologie».
Kultur- und Sozialanthropologe Matthias Lewy untersuchte verschiedene Konzeptionen von Vogel-Mensch-Klangbeziehungen im transkulturellen Vergleich. Er illustrierte dieses Thema am Beispiel der «akustischen Mimesis».
In der interdisziplinären Zusammenarbeit mit dem HSLU-Departement Design & Kunst stand die Reflexion und Entwicklung von künstlerischen Formaten zur Vermittlung der Ergebnisse aus dem SNF-Projekt im Zentrum. Die daraus entstanden Beiträge eröffnen jeweils andere Zugänge zur Thematik, so etwa «Subpolar Birdscapes in Transformation», eine Klanginstallation der Künstlerin Martina Lussi aus Feldaufnahmen von Patricia Jäggi, die Dokumentation «Ganz Ohr: Akustisches Erwachen des Wasser- und Zugvogelreservats Wauwilermoos» von Filmemacher Léon Hüsler und Martina Lussi sowie «Of Decay & Friends», eine Performance der beiden Künstlerinnen Sophie Germanier und Anna Lena Eggenberg, die an der Vernissage im Natur-Museum Luzern gezeigt wird. Die Kulturwissenschaftlerin Marie-Louise Nigg begleitete die beiden und beschreibt die Performance in ihrem Beitrag «Art Mediation: Non-/humane Dialog- und Imaginationsräume».
Die Ausstellung «Birdscapes» im Natur-Museum Luzern kann vom 16. September bis zum 3. November 2022 besucht werden. Die Vernissage inkl. Live-Performance ist am 15. September (Eintritt frei).
Für alle Interessierten findet am 7./8. Oktober 2022 eine Konferenz an der HSLU statt. Referate, Dialoge, künstlerisch-musikalische Interventionen und Workshops bieten dabei ein breites Spektrum an Einblicken in die Welt der Vögel, ihre Klänge und Klangumwelten. Die Teilnahme ist kostenlos.
Weitere Informationen zu allen Projekten: hslu.ch/birdscapes