In unseren Projektinterviews und Recherchen wurde das Hören von Vogelstimmen oft mit Wohlbefinden, Entspannung und Erholung, und mit spezifischen Vorstellungen von Natur in Verbindung gebracht. Ob Garten, Feld oder Wald, ‹die Natur› wurde als Ort der Pause oder Auszeit vom alltäglichen Treiben beschrieben. Dabei wurden Vögel und Vogelklänge besonders betont. Jemand bemerkte: «Das Aufsaugen, Geniessen der (Vogel-)Stimmen hat etwas sehr Beruhigendes». Oder: «Immer wieder dachte ich, wie gut es einem tut, einfach durch die Landschaft zu wandern und zu hören, zu sehen was rechts, links und oberhalb von einem ist». Eine andere Person sagte: «Man ist irgendwo in der Natur draussen, man entspannt sich». Jemand notierte in einem Feldornithologie-Tagebuch: «Innerhalb von ein paar 100 Metern höre ich eine Singdrossel singen, hoch oben auf der Tannenspitze; einen Grünspecht rufen etwas weiter unten. Ein paar Meter davon entfernt sehe und höre ich einen Zilpzalp. Etwas stehen bleiben und man sieht alle. Wunderbar ist das Gefühl, mitten in der Vogelwelt zu sein.»
Diese persönlichen Eindrücke und Beobachtungen werden von der Fachliteratur allgemein gestützt und erklärt. Die Wirkung der Natur auf die Gesundheit wurde in der Psychologie bereits in den 1980er Jahren untersucht. Es stellte sich heraus, dass die Zeit, die draussen in der Natur verbracht wird, eine positive Wirkung auf die Konzentrationsfähigkeit hat und gleichzeitig die mentale Ermüdung hemmt. Während eine natürliche Umgebung hilft, Stress abzubauen, behindert eine städtische Umgebung diesen Prozess. Spätere Studien zeigen, dass der Aufenthalt im Wald sowohl Cortisolspiegel, Pulsfrequenz und Blutdruck zu senken vermag. Interessanterweise haben sogar der Blick auf eine natürliche Umgebung und das Hören von Naturgeräuschen einen lindernden Effekt. Dass das blosse Sehen und Hören von audio-visuellen Aufnahmen offenbar einen Einfluss auf die Schmerztoleranz haben, bestätigt der Besuch in der Zahnarztpraxis, wo Naturdokumentarfilme auf an der Decke montierten Bildschirmen laufen – oder im Corona-Impfzentrum.
Diese Befunde werden nicht nur durch die akademische, sondern auch die populäre Literatur vermittelt – z.B. das 2017 erschienene Buch The Nature Fix (Heilung durch Natur) von Florence Williams, das den vielsagenden Untertitel «Warum die Natur uns glücklicher, gesünder und kreativer macht» trägt. Studien über das vogelbedingte Wohlbefinden zeigten insbesondere, dass Vogelklänge dieselben erholenden und stressreduzierenden Wirkungen haben. Das Buch Bird Therapy (Vogeltherapie) von Joe Harkness beschreibt den Triumph des Autors über eine psychische Erkrankung durch den Kontakt mit Vögeln, die er «well-birding» nennt – eine Anspielung auf den Begriff ‹well-being›. Natürliche Umgebungen aufzusuchen und den Vogelstimmen zu lauschen werden als eine Form der Wohlfühlpraxis per se betrachtet. Sie sind aber auch ein Bestandteil der modernen westlichen säkularen Praxis der Achtsamkeit geworden.
Immer häufiger erscheinen populäre Artikel mit Titeln wie «Vogelbeobachtung als einfache Achtsamkeitspraxis» (Birdwatching is an easy way to practice mindfulness) oder «Neue Art der Meditation mit Kindern: Folgt dem Vogel» (New form of meditation for children: Follow the bird). Naturschützerin Claire Thompson schreibt über «The art of mindful birdwatching» (Die Kunst der mediativen Vogelbeobachtung), während der Biologe George Haskell das Thema in einem Podcast und einer online Zeitschrift behandelt. Beide Autor:innen geben Anleitungen für Achtsamkeitsübungen.
Auch unsere Interviewpartner:innen erwähnten den Zusammenhang von Vogelkunde und Achtsamkeit. Jemand fand: «... aufs Land zu gehen und Vögel zu beobachten – das ist super für den Geist. Es ist eine Art von Achtsamkeit. Denn wenn man mit dem Fernglas auf dem Feld ist und Vögel beobachtet und ihnen zuhört, ist man in der Gegenwart und konzentriert sich auf das, was man hört und was man sieht. Es ist eine Art von Achtsamkeit.» Oder: «So habe ich ein Hobby gefunden, welches super beruhigend, entspannend, kopflüftend ist: Therapie, Yoga und Meditation alles in einem.»
Achtsamkeit wird oft als Auszeit vom hektischen Alltag verstanden. Der Akt des Zuhörens ist ein wichtiger Bestandteil von Achtsamkeitstraining wie z.B. Deep Listening und Waldbaden (shinrin yoku), da zwischen Zuhören und Innehalten eine wechselseitige Beziehung besteht: Einerseits müssen wir innehalten und uns fokussieren, um das Subtile wahrnehmen zu können, andererseits hilft das Innehalten, fokussiert zuhören zu können. Warum aber sind Aufmerksamkeitsschulungen so oft mit der Vorstellung von ‹Natur› verbunden? Was ist ihr Potenzial, die Mensch-Vogel-Umwelt Beziehung besser zu verstehen?
Sogenannte ‹natürliche› Klänge sind ideale auditive Settings für Achtsamkeitsübungen. Man kann diese Klänge draussen in der Natur erfahren, d.h. in natürlichen, unverbauten Umgebungen. Es können aber ebenso gut Aufnahmen von Vögeln zum Training gebraucht werden, wie die Vielfalt von Vogelklang-Soundtracks zeigt, die auf Achtsamkeits-Plattformen zu finden sind. Dass Vogelklänge neben Naturgeräuschen besondere Erwähnung finden, mag daran liegen, dass sie oft einfach als Kurzform für ‹Naturklänge› verstanden werden.
Warum ‹Natur›-Geräuschen ein so hoher Stellenwert beigemessen wird, lernten wir von unseren Interviewpartner:innen. Generell wird ‹die Natur› als ruhig und still wahrgenommen. Stille aber bedeutet nicht absolute Geräuschlosigkeit, sondern das Fehlen menschlicher Geräusche. So sagte jemand: «Ich liebe die Naturstille, wenn man durch den Wald geht. Das Rascheln der Blätter. Mal ein Knacken, ein Rascheln; mal ein Vogelgezwitscher oder ein Specht». Eine andere Person beschrieb eine Wanderung «im Wald, über Feld und Wiese mit viel Ruhe und kaum Menschen». Dabei wurde die Gesamtheit der Vogelstimmen als «Waldkonzert» wahrgenommen und «die Ruhe, die Geräuschkulisse eines Waldes» im Kontrast zu den «Stress auslösenden» Klängen einer Baustelle oder des städtischen Strassenverkehrs erwähnt.
Dass natürliche Geräusche als still interpretiert werden, könnte damit zu tun haben, dass in der deutschen Sprache mit ‹Stille› auch ‹Ruhe› respektive ‹wenig Geschäftigkeit› gemeint ist. Das Gefühl, dass das Tempo in natürlichen Umgebungen langsamer ist und mehr Distanz zwischen den Menschen herrscht, trägt zu einem ‹Gefühl der Ruhe› bei. Und dies, obwohl die akustische Wahrnehmung der Natur alles andere als ruhig ist. Eine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomenon versucht die Neurologie zu liefern: Das Hören von Vogelstimmen (und anderen Naturgeräuschen) produziert im menschlichen Gehirn Alphawellen, die ein Gefühl von entspannter Wachsamkeit auslösen. Dies ist genau die Stimmung, die bei Achtsamkeitsübungen angestrebt wird. Eine weitere Erklärung für die Beliebtheit von Naturgeräuschen in den Achtsamkeitspraktiken liegt im Gefühl des Präsent-seins – ein Schlüsselelement der Achtsamkeit. Dabei werden Vögel als ‹präsent› wahrgenommen. Durch konzentriertes Zuhören und Beobachten von Vögeln erleben auch wir dieses Präsentsein, wie es die Vögel selbst so gut beherrschen. Sowohl in den Interviews als auch in der populären Literatur wird das simple Da-Sein und die Unvoreingenommenheit der Vögel immer wieder erwähnt. Vögeln zuzuhören kann den Moment des Da-seins (oder des Da-werdens) intensivieren, denn das Hören kann nur in Realzeit stattfinden. Eine Interviewpartnerin bemerkte, dass sie Dank der Beobachtung und dem Zuhören der Tierwelt «viel bewusster durch die Welt» gehe. Eine andere beschrieb ihr Zuhören als eine Art der «Präsenz im Moment». Eine weitere Person meinte, dass sie beim Beobachten und dem Zuhören der Vogelrufe völlig frei sei von anderen Gedanken. In der Tat taucht man beim bewussten Hören vollständig in den akustischen Kontext ein. Im Gegensatz zum Schauen, wo man dem Gesehenen gegenübersteht, um es überhaupt sehen zu können, befindet man sich beim Zuhören mitten im Klangraum.
In der westlichen Praxis von Mindfulness steht meistens das individuelle Wohlbefinden im Vordergrund. Mindfulness ist ein Tool, um sich vom Alltagsstress zu erholen, Ruhe zu finden und Kraft zu tanken. Beschränkt sich das Hören nur auf unser individuelles Wohlbefinden oder kann es uns auch für das ökologische Wohlbefinden sensibilisieren?
Obwohl Vögel beobachten in der Regel mit den Vorteilen für die persönliche Gesundheit und das individuelle Wohlbefinden in Verbindung gebracht wurde, fanden einige der Interviewpartner:innen durch diese Aktivität Zugang zum Umweltschutz. Durch «Verbundenheit» und «Einssein mit der Natur» kann die «Beziehung zum grossen Ganzen» gestärkt werden. Da das Zuhören eine direkte, Jetztzeit-Beziehung mit der Umwelt voraussetzt, kann es auch eine ökologische Rolle spielen. Durch das achtsame Zuhören könnte ein Beziehungsmodell entstehen, das über die individuellen gesundheitlichen Vorteile hinaus auch ökologische Vorteile mit sich bringt. Das achtsame Zuhören ist eines der allerwichtigsten Elemente eines Gesprächs und einer Beziehung. Wenn wir uns als Teil der Umwelt wahrnehmen und einen gegenseitigen Austausch mit anderen Lebewesen anstreben, würde das nicht heissen, dass wir lernen müssten, sorgfältiger zuzuhören und selber weniger Lärm zu produzieren? Wie können wir dieses Wissen in unseren Alltag einbeziehen?
— Natalie Kirschstein
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit ist ursprünglich ein Bestandteil von buddhistischen Mediationspraktiken. Im westlichen Kontext hat Achtsamkeit weniger mit spirituellen oder umfassenderen Zielen zu tun als mit individueller Gesundheit. Bewusstheit und nicht wertende Akzeptanz des gegenwärtigen Moments werden als therapeutische Technik eingesetzt.
Die Grundlagen für die moderne Achtsamkeitspraxis im Westen wurden in den späten 1970er Jahren von Jon Kabat-Zinn als eine Form der Stressreduzierung entwickelt. Kabat-Zinn integrierte seine wissenschaftlichen Kenntnisse mit Erfahrungen aus dem Buddhismus, Zen und Yoga. Die Achtsamkeitspraxis wurde später auch in anderen therapeutischen Kontexten eingesetzt, z.B. bei Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Schmerzen, Schlaflosigkeit oder Essstörungen. In den 1990er Jahren wurde Achtsamkeit zunehmend populär. Heutzutage wird Achtsamkeit für allgemeine Gesundheitszwecke eingesetzt, sowie zur Stressbewältigung und zur Steigerung der Produktivität in Schulen und Betrieben. Zum Thema Achtsamkeit gibt es eine Fülle von Zeitschriften, Online-Publikationen und Büchern bis hin zu Apps für geführte Meditationen.
Waldbaden: Achtsamkeit im Wald
Das japanische shinrin-yoku (Waldbaden) ist eine Art naturbasierte Achtsamkeitspraxis, welche die Verbindung mit der Natur und dem gegenwärtigen Moment über die Sinne betont. Shinrin-yoku wurde 1982 von Tomohide Akiyama, Professor und Direktor des Zentrums für Umwelt, Gesundheit und Feldforschung an der Universität Chiba, entwickelt. Die vom japanischen Gesundheitsministerium anerkannte Methode der Naturtherapie führte 2012 zur Gründung der Japanischen Gesellschaft für Waldmedizin. Shinrin-Yoku ist unterdessen auch ausserhalb Japans eine anerkannte Form der Stressbewältigung und Präventivmedizin. In Europa wächst das Interesse an dieser Methode zunehmend.
Alphawellen: Entspannte Wachsamkeit
Das Ziel dieser Art von Achtsamkeitspraxis ist es, einen Zustand ruhiger Wachsamkeit zu erreichen, der durch sogenannte Alphawellen verursacht wird. Im Gehirn gibt es elektrische Ströme, die aus der Aktivität der Nervenzellen resultieren, welche sich in der Frequenz und in ihrer Höhe unterscheiden. Die langsamen Alphawellen befinden sich im Frequenzbereich zwischen 8 und 12 Hertz und entwickeln sich in einem gelösten, geruhten Zustand. Kennzeichnend für Alphawellen sind Entspannung, ruhiges, fliessendes Denken und ein Gefühl der Integration von Körper und Geist. Beim Hören von Vogel- und Wassergeräuschen werden Alphawellen produziert.