‹Soundscape› beschreibt zum einen unsere klangliche Umgebung, die aus menschlichen, technischen und natürlichen Klängen besteht. Er verweist aber auch auf eine Hörhaltung, auf ein ganzheitliches Hören. R. Murray Schafer, der den Begriff ‹Soundscape› bekannt gemacht hat, war es ein Anliegen, dass wir uns trotz der uns manchmal überwältigenden Menge und Lautstärke von Klängen in unserer modernen, urbanisierten Lebenswelt nicht weghören oder nur selektiv auf einzelne Klänge fokussieren, sondern wieder ganzheitlich hinhören lernen. Auch anderen Musiker:innen wie z.B. Pauline Oliveros mit ihrer Methode des Deep Listening war es ein Anliegen, dass wir uns im Alltag über musikalisches und künstlerisches Schaffen mit dem Hören auseinandersetzen, dass wir die Klänge isoliert, aber auch in ihrem Zusammenspiel insgesamt wahrnehmen und bewusst die ‹Sonosphäre›, wie sie die ‹Soundscape› benannt hat, mitgestalten und beeinflussen. So gab und gibt es neben euphorischen auch kritische Stimmen gegenüber dem sich rasch verbreitenden Soundscape-Begriff. Er würde entgegen Schafers Intention den Klang und insbesondere den vorherrschenden menschlichen Lärm allzu sehr zu externalisieren drohen und ihn wie die Oberflächen eines statischen Landschaftsbildes ‹einfrieren›. D.h. Klänge würden dabei zweidimensionale Objekte. Weil Klänge uns aber umgeben, wir mehr in sie eintauchen als sie wie ein Bild von aussen betrachten, und weil Klänge letztlich ephemer, in steter Bewegung – in Entstehung und Auflösung – sind, finden manche den Begriff nach 50 Jahren nicht mehr zeitgemäss. So gibt es Ansätze, die Klänge und unsere (auditive) Wahrnehmung nicht als zweierlei zu sehen – als ein Klangobjekt und ein wahrnehmendes Subjekt – sondern Klang und Hören als eine ontologische Einheit auffassen – oder philosophisch gesprochen: Das Dasein des Klangs soll viel mehr in der hörenden, also wahrnehmenden Entität – in einem Menschen, Vogel oder anderen Lebewesen – verortet werden. Gehen wir also davon aus, dass Klänge ein Phänomen der Wahrnehmung, des Hörens sind, ist Landschaft nur eine von mehreren Möglichkeiten, die gehörte Komplexität, die erfahrene Immersion in Klang- respektive Hörräumen zu deuten. Ersetzt man Landschaft mit Atmosphäre – wie im Begriff ‹Sonosphäre› – wird das Immersive, das eine Umfassende, das Sensorische des Klangs stärker betont.
Wie würden wir unsere Soundscape oder Sonosphäre verstehen, wenn wir sie aus der direkten und indirekten Erfahrung des Hörens von Vögeln zu verstehen versuchten? Dabei ist mit direkter Erfahrung das Erleben der Forscherin selbst, mit indirekter Erfahrung das Erleben anderer Menschen, die mit den Forschenden ihre Erlebnisse, Vorstellungen und Ideen teilen, gemeint. Dabei zeigt sich, dass das Identifizieren von Vögeln anhand ihrer Gesänge und Rufe einen wichtigen Stellenwert in unserer auditiven Beziehung zu Vögeln hat. Nur die Identifikation ermöglicht es Ornitholog:innen, Vögel zu erforschen. Die Transkription von Vogelstimmen ermöglicht es ausserdem, diese in Musik zu überführen: dabei denken viele als erstes an Olivier Messiaens Catalogue des oiseaux. Aber auch heute gibt es Komponist:innen, die Vogelstimmen transkribieren und Musik daraus schöpfen. Aus beiderlei Traditionen, der naturwissenschaftlichen wie der künstlerisch-musikalischen Wahrnehmungstradition heraus bevorzugen wir Singvögel, also letztlich Vögel, die tendenziell varietätsreich, melodiös und virtuos singen.
In Island, einer der Feldforschungsschwerpunkte des Projekts, gibt es im Gegensatz zu Mittel- und Westeuropa auffällig wenige Singvögel und sehr viele Wasser-, Wat- und Meeresvögel. Einsilbige, konstante, monotone, kratzbürstige Tierlaute wie diejenigen von Gänsen oder Möwen finden im Gegensatz zu Singvögeln wie Nachtigallen, Amseln oder Lerchen verhältnismässig wenig Aufmerksamkeit in der menschlich-kulturellen Repräsentation. Wenn wir an Vogel und Klang oder gar Vogel und Musik denken, denken wir an Vogelstimmen, an Singvögel vor allem, aber es gibt so viele andere Vogelfamilien, die Laute mit ihren Stimmen, aber auch mit ihren Körpern, den Federn, Flügeln, Schnäbeln, Füssen produzieren, denen wir tendenziell kaum Aufmerksamkeit zu schenken geübt sind, auch wenn diese bei genauem Hinhören faszinierende Geräusche sind. So fiel mir bei den Feldforschungen in Island auf, dass sich auf meinen Tonaufnahmen, die ich am Mývatn-See, einem wichtigen Brutgebiet für Enten in Island aufgenommen habe, auffällig viele Fluggeräusche und Bewegungsgeräusche auf dem Wasser hören lassen (siehe Box). In Island hört man zudem immer wieder die Bekassine, die auf Sturzflügen mit ihren Schwanzfedern ‹singt›.
Versuchen wir uns diesen Kosmos an Klängen, die Vögel produzieren, vorzustellen: Die meisten Vögel sind durch ihre Flugfähigkeiten in ständiger und hörbarer Bewegung, mit ihren Flügeln hinterlassen sie ‹akustische Spuren› zwischen den von uns und von ihnen bewohnten Strukturen, zeichnen vernehmbare Linien in den Himmel. Wir vollführen diese Wege in unserer klanglichen Imagination nach, und dabei wird uns bewusst, dass Vögel durch diese Bewegungen lautlich einen Lebensraum bespielen, der uns aufgrund unseres terrestrischen Daseins fremd ist. Während der Himmel für uns Menschen oft einfach eine Übergangszone zwischen zwei Punkten auf der Erdoberfläche ist, ist dieser aus Vogelperspektive Teil ihres Lebensraums. Die Küstenseeschwalbe, ein Vogel, der in Island und anderen Regionen der Subarktis und der Arktis brütet, fliegt jedes Jahr von der Antarktis in den Norden – und reist dabei bis zu 80’000 Kilometer – weiter als jede andere Vogelart. Küstenseeschwalben verbringen also einen Grossteil ihres Lebens in der Luft, und dazu sind sie sehr stimmfreudig.
Denken wir ‹Soundscape› als auditiv-klangliche Lebenspraxis anstatt als eine Ansammlung von Quellen und klingenden Objekten, die angenehme Klänge und unangenehmen Lärm produzieren, kann sie zu einem klanglich-auditiven Bewohnen der Welt werden. Der klingende Lebensraum rückt die Frage nach den klanglichen Beziehungen von Menschen und Vögeln in ein anderes Licht: Wie funktioniert dieses auditiv-klangliche Zusammenleben oder co-inhabiting und wie kann es gestaltet werden, damit es über Speziesgrenzen hinweg inklusiver ist und Diversität ermöglicht? Inwiefern können wir durch Vögel und das aufmerksame Hinhören auf ihre Stimmen und Geräusche uns unseres Einflusses auf ihr Leben und ihres Einflusses auf unser Leben bewusst(er) werden? Über die Vorstellung, dass wir gemeinsam die Welt, einen Lebensraum, eine Landschaft auditiv-klanglich bewohnen, erscheint das Hinhören und Produzieren von Lauten im Licht einer umsorgenden, fürsorglichen Praxis des gemeinsamen Weltbewohnens.
– Patricia Jäggi
Field Recording bei Sturm: Suche nach Windschutz in der alten Fàlki(Falken)-Quelle bei Öndverðarnes (Westisland) (Foto: Christoph Brünggel)
Feldforschung in Island mit den Ohren
Re-Listening (Wiederholtes Hören) bildet einen wichtigen Zugang zum vertiefenden Verständnis von Vogellauten: Tonaufnahmen ermöglichen es, Vogelstimmen mehrmals zu hören und sie auch genauer zu analysieren – sei dies zu Forschungs- oder zu künstlerischen Zwecken. Patricia Jäggi verbrachte die Sommermonate 2021 für Feldforschungen in Island. Dabei entstand eine Sammlung an Tonaufnahmen von spezifischen Lebensräumen, so insbesondere in einem wichtigen Brutgebiet für Enten, dem Mývatn-See, sowie an verschiedenen Orten entlang der Küste Islands. Die Aufnahmen, die zusammengezählt über 34 Stunden Tonmaterial ergaben, wurden grösstenteils mit einem ambisonischen Mikrophon erstellt – eine Aufnahmetechnologie, die die klangliche Umgebung dreidimensional wiedergibt. Die Feldaufnahmen ermöglichen so einen Einblick in das hörbare Leben, die Vielfalt und die Vielzahl von Wasser-, See- und Küstenvögeln Islands, von welchen einige in riesigen Kolonien brüten. nbsp;Auch wenn Island das am wenigsten dicht besiedelte Land Europas darstellt, wird dennoch die Präsenz des Menschen in den miteinander geteilten Lebensräumen immer wieder in den Aufnahmen hörbar und hallt in der daraus entwickelten 30-minütigen Komposition nach, die Martina Lussi für den Hörraum in der Ausstellung «Birdscapes» im Natur-Museum Luzern geschaffen hat.
Zur Sammlung «Seeking Birdscapes in Iceland»