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Das lineare Wirtschaftsmodell der Textilindustrie führt zu ökologischen Auswirkungen, die durch kurze Nutzungsphasen, geringe Wiederverwendung und Reparaturfähigkeit sowie niedrige Raten beim Faser-zu-Faser-Recycling gekennzeichnet ist. Die Perspektive Rückgewinnungsprozesse und Sekundärrohstoffe sucht nach Lösungsansätzen, welche die konkreten Herausforderungen und Chancen für Designer:innen im Umgang mit Sekundärrohstoffen und Rückgewinnungsprozessen untersucht. Dabei steht die Prämisse im Vordergrund, dass die Textilindustrie durch den konsequenten Ersatz von herkömmlichen Rohstoffen durch Recyclingmaterialien einen bedeutenden Anteil der verursachten Emissionen vermeidet. Die Vision einer endlos zirkulären Rohstoffversorgung, inklusive der ethischen Verpflichtung westlicher Industrienationen, den verantworteten Abfall sinnvoll zu verwerten, sehen wir als Forschungsgruppe als Chance in der Funktion von Vermittler*innen Prozess und Materialorientierte Visionen durch angewandte Experimente interativ in die Praxis umzusetzen.
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Alt- bzw. Abfalltextilien sind ein modernes Phänomen und ein Problem hochindustrialisierter Gesellschaften. Die frühe Neuzeit war geprägt von einer „Recycling-Mentalität“, die eine Wiederverwertung oder Wiederverwendung als kulturell selbstverständlich und für die Bevölkerungsmehrheit als ökonomisch essenziell ansah1. Insbesondere durch die Zunahme von Massenproduktion und -konsum nach dem Zweiten Weltkrieg und den sich immer schneller ändernden Modepraktiken im späten 20. Jahrhundert ist die Gesellschaft gegenwärtig mit einer zunehmenden Menge an Alttextilien konfrontiert2.
Durch das Aufkommen zirkulärer Praktiken, die den Abfall wieder neu als Ressource betrachten, ändert sich derzeit der Wert von Abfalltextilien und erlebt einen Aufschwung3. Neben den Prinzipien von Share, Repair und Remanufacture stellt der Recyclingprozess ein wichtiges Glied als letztmöglich anzuwendende Option – vor der biologischen Verwertung – innerhalb einer kaskadisch aufgebauten Kreislaufwirtschaft dar (hier mit besonderem Fokus auf Textilien4)5. Insbesondere aus design- und industriespezifischer Perspektive wird ein wichtiges Handlungsfeld eröffnet. Der Begriff Recycling wird hierbei durch die Rückführung und Einschleusung von Alt- und Abfalltextilien in den Herstellungsprozess von Konsumgütern bzw. deren stoffliche Wiederverwertung definiert. Dabei handelt es sich um textile Industrieabfälle in Form von Fasern, Garnen, Stoffresten, Produktionsabschnitten (post-industrial-waste), ungetragene bzw. unbenutzte Textilerzeugnisse (pre-consumer-waste) und Kleidungsstücke nach deren Gebrauch (post-consumer-waste).6 Für die Verwertung der textilen Abfälle wird grundsätzlich in drei technischen Verfahren unterschieden: stoffliches Recycling (Faserrückgewinnung), chemisches Recycling (Rückgewinnung der chemischen Ausgangsstoffe) und thermisches Recycling (Rückgewinnung der bei der Produktion eingesetzten Energie).7 Diese Verfahren sind eingebettet in eine Prozesskette, die das textilindustrielle Recycling konstituieren. Hierzu gehören Sammlung, Sortierung, Aufbereitung und Weiterverkauf von Alttextilien sowie die Weiterverarbeitung in der Putzlappenindustrie, die Herstellung von Reissfasern, die Verarbeitung zu Dämmmaterialien und Recyclinggarnen.8 Die einzelnen Prozesse sind bis dato meist arbeits-, kosten- und energieintensiv. Eine genaue Sortierung nach spezifischen Kriterien (Zustand, Typologie, Material, Technik, Farbe) bildet dabei die Grundlage für die Qualität der darauffolgenden Prozessschritte. Neben der zunehmenden Minderwertigkeit der textilen Abfälle stellt die konsequente Verwendung von Materialmischungen durch die Industrie, die aufgrund ihrer funktionalen Eigenschaften und Preisvorteile eingesetzt werden, eine der grössten Herausforderungen für heutige Recyclingtechnologien dar.9 Im Sinne eines gestalteten End of Life (EOL) besteht dringender Handlungsbedarf geschlossene technologische respektive biologische Kreisläufe im Abgleich mit adäquaten Rückgewinnungsprozessen zu entwickeln.
Mit der Perspektive Rückgewinnungsprozesse und Sekundärrohstoffe untersucht die Forschungsgruppe Produkt & Textil die oben genannten Recyclingprozesse von Textilien und anderen faserbasierten Materialien sowie die Fertigung und Nutzung von Sekundärrohstoffen. Ziel ist es der stetig wachsenden Neufaserproduktion durch die Entwicklung von rezyklierten Materialien entgegenzuwirken bzw. diese ganz oder teilweise zu substituieren. Im Verbund mit funktionalen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten soll der Werterhalt mit möglichst umweltschonend produzierten Textil-Rezyklaten in den Fokus genommen werden.
Als Teil des globalen Textilsektors möchte die Perspektivengruppe anhand angewandter und transdisziplinärer Methoden die Erreichung der UN Sustainable Development Goals10 unterstützen. Mit der Europäischen Verordnung der Eco Design Requirements11 bis 2026 durch die EU wird zudem ein regulatorischer Rahmen zur Verbesserung der ökologischen Nachhaltigkeit von Produkten geschaffen. Die verbindlichen Designanforderungen für nachhaltige und kreislauffähige Produkte und Textilien, die im Rahmen dieser Verordnung eingeführt werden, dienen als Anstoss zu einem Paradigmenwechsel hin zu nachhaltigen Designalternativen.
Die methodische Herangehensweise der Perspektivengruppe umfasst eine Kombination aus Prozessdesign und «Material Driven Design»12 auf einem Mikro- und Makrolevel13. Dies umfasst sowohl die Erarbeitung von Machbarkeitsstudien und explorativen Experimenten im Labormassstab als auch die Erarbeitung von Proof of Concepts mit Prototypen in Zusammenarbeit mit der Industrie. Konkrete Fallbeispiele sollen die Machbarkeit in iterativen Prozessen erproben und insbesondere Meta-Visionen erfahr- und kommunizierbar machen. Die Rolle des Designs wird dezidiert als Ausgangspunkt für Recyclingpraktiken betrachtet14.
Die Designforschung hat zum Ziel ein neues Rollenverständnis des Designs innerhalb der textilen Wertschöpfungskette zu diskutieren. Dies schliesst eine holistische Sichtweise ein und erfordert neue Expertisen bzgl. Material- und Prozessknowhow, um die erweiterte Verantwortung hinsichtlich ökologischer Effekte adäquat tragen zu können.15 Konkret beinhaltet dies beispielsweise die Untersuchung von Chancen und Herausforderungen kaskadischer und regionaler Recyclingströme sowie die Untersuchung und Beweisführung ökologischer Auswirkungen im Zusammenhang heutiger und zukünftiger Recyclingpraktiken. Um neue recycling-positive Sichtweisen auf Nutzenden- und Produzierendenebene zu erreichen, sollen ausserdem Ansätze entwickelt werden, die neue Prozesse und Recycling-Ästhetiken in den Blick nehmen bzw. die Akzeptanz von Sekundärrohstoffen steigern. Weiter werden designgetrieben neue Methoden und Technologien zum Umgang mit Inkonsistenzen (Mengen, Materialzusammensetzungen und Farbe) erforscht und entwickelt.
Autor:innen: Brigitt Egloff, Joel Hügli, Florence Schöb, Tina Tomovic, Benjamin Willi
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1 Erscheint Recycling als Methode der Abfallverwertung heute zumeist als Ergebnis der ökologischen Modernisierung ab den 1970er Jahren, als sich
Umweltpolitik und Umweltbewusstsein etablierten, stammt der Begriff aus den Prozessverfahren der Petroindustrie der 1920er Jahre, die ihre Öl-
bzw. Crackreste systematisch reziklierte. Die historische Denktradition reicht jedoch wesentlich weiter zurück. Es war über Jahrhunderte weg etwa
der Altstoff-Handel - darunter auch derjenige mit Lumpen - der das „Zirkulieren“ des ausser Gebrauch Gelegten und der Reste ermöglichte und im
19. Jahrhundert in den europäischen Grossstädten zu einem frühen industriellen „Recycling“ beitrugen, Vgl. hierzu beispielsweise Barles 2005 oder
Trischler 2016.
2 Basierend auf einer Schweizer Textilproduktion von 15'880 Tonnen wurden hierzulande im Jahr 2019 insgesamt 1505 Tonnen Post-Industrial Abfall
erzeugt. Insgesamt (inklusive Textilimporte) werden laut BAFU jährlich rund 50'000 Tonnen Altkleider schweizweit gesammelt. Die Ellen McArthur
Foundation hält in diesem Zusammenhang fest, dass heute weniger als 1% Alttextilien zu neuen hochwertigen Textilien recycelt bzw. upcycelt
werden (Ellen McArthur Foundation (2017), A new Textiles Economy).
3 Stahel 2016.
4 Die Kompetenzen der Forschungsgruppe Produkt und Textil liegen schwerpunktmässig im Bereich Textil bzw. textilnahe Materialien, grundsätzlich
können aber auch andere recycelbare Materialien in Projekte einbezogen werden.
5 Sumter 2021.
6 Sandvik/Stubbs 2019.
7 Wulfhorst/Gries et al. 2015, 442-456. Weiter zu beachten sind hier die Ausführungen von Sandin (2018), die auf die ungenügend klare Terminologie in der Unterscheidung von Recyclingprozessen aufmerksam macht und eine Unterscheidung gemäss Auflösungsgrad vorschlägt.
8 http://www.bvse.de/themen/geschichte-des-textilrecycling/der-weg-von-der-sammlung-zur-wiederverwendung.html, [Stand: 31.2.2022].
9 Besorgniserregend sind hier insbesondere die Auswirkungen des weltweit am häufigsten verwendeten Faserstoffs Polyester, welcher laut «Textile
Exchange 2021» im Jahr 2020 mit rund 57 Millionen Tonnen ca. 52 % der gesamten Faserstoffproduktion ausmachte. Textilexchange 2021,
https://textileexchange.org/wp-content/uploads/2021/08/Textile-Exchange_Preferred-Fiber-and-Materials-Market-Report_2021.pdf, [Stand:
28.06.2022].
10 Und diesbezüglich fokussiert die Perspektive Recycling die SDG 9 Eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen und SDG 12 Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen.
11 COM (2022) 142 final.
12 Karana 2015.
13 Latour 2006.
14 Hall (2021) beschreibt unter Berufung von Goldsworthy (2014), Veelaert et al. (2017) und Maris et al. (2014), dass zwischen drei unterschiedlichen Designprinzipien innerhalb des Recyclings unterschieden werden kann: «Design for Cyclability» gewährleistet die Reziklierbarkeit eines Produktes beim EOL, «Design from Recycling» nutzt Sekundärrohstoffe und «Design for Recycling» kombiniert beide Prinzipien.
15 Sowohl Hall (2021) als auch Karell (2019) beschreiben die Notwendigkeit eines neuen Rollenverständnisses.
Literaturliste
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Hall, C., 2022, Design for Recycling Knitwear, a framework for sorting, blending and cascading in the mechanical textile recycling industry, University of the Arts London, Centre for Circular Design, https://www.researchgate.net/publication/357335007_Design_for_Recycling_Knitwear_a_framework_for_sorting_blending_and_cascading_in_the_mechanical_textile_recycling_industry, [Stand:25.08.2022]
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