1. Nachhaltigkeitsziele
Angesichts des fundamentalen Charakters der aktuellen ökologischen Krise unseres Planeten ist es das Ziel der HSLU, zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele beizutragen. Die Ursachen dieser Krise sind ausgesprochen vielfältig und nicht einfach technischer Natur, sondern sie liegen vielmehr auf der kulturellen und gesellschaftlichen Ebene.1 Der Klimawandel muss daher nicht allein als technische, sondern vielmehr auch als eine kulturelle Herausforderung interpretiert werden. Es geht um nichts weniger als darum, etablierte Produktideen, Nutzungspraxen, ja unsere gesamte Kultur zu transformieren.
2. Das Ende der Karbonisierung
In der Vor-Moderne waren aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten und einer erheblich geringeren globalen Bevölkerung ökologische Herausforderungen räumlich und zeitlich nur begrenzt ein Problem. Sie stellten nicht die Existenz menschlichen Lebens insgesamt in Frage.2 Durch das Zeitalter der Karbonisierung der Wirtschaft, die mit der Industrialisierung gleichgesetzt werden kann, änderte sich dies radikal. Die neuen Produktionsverfahren, die den Klimawandel beförderten, sind aber stets verbunden mit einer sich verändernden Kultur.3 So bildete sich der Massenkonsum heraus, und neue Bedürfnisse wurden entwickelt. Es wurden jahrtausendealte Recyclingpraxen vergessen und etablierte nachhaltige Produktionsprozesse fielen neuen, meist delokalisierten Verfahren zum Opfer (z.B. Flachs), welche in der Logik der sich neu herausbildenden ökonomischen Architektur rationeller waren. Als Ergebnis bildeten sich gestalterische Praxen aus, welche auf diese neuen Bedingungen perfekt abgestimmt waren, und ökologisch problematische Lösungen hervorbrachten.
3. Kultureller Paradigmenwechsel
In diese nicht nachhaltige Kultur sind wir hineinsozialisiert worden. Ihre Paradigmen bilden selbstverständlich erscheinende Grenzen gestalterischen Handelns, die kaum hinterfragt werden können. Sie definieren Produktvorstellungen (z.B. Schuhe) oder Lösungsansätze (z.B. Glaube an technisierte Lösungswege wie der Chemie). Beim Designen und Entwickeln von Produktlösungen werden die noch aktuellen kulturellen Paradigmen wirksam. Oft passiert dies unmerklich. Denn diese kulturellen Paradigmen definieren nicht nur die Lösungsstrategien und Antworten für gestellte Probleme, sie formulieren vielmehr die Fragen, die dem Design gestellt werden (z.B. Fokussierung auf Antriebswende anstatt auf Mobilitätswende).4
4. Von Pfadabhängigkeiten zu kulturkritischer Reflexion
Wenn man die bestehenden Nachhaltigkeitsprobleme als ein kulturelles Phänomen begreift, können etablierte Verfahren durch kulturkritische Reflexion der Gegenwart hinterfragt und bestehende Pfadabhängigkeiten können verlassen werden.5 Dies öffnet den Blick auf alternative gestalterische Handlungsfelder und es lassen sich effektivere Lösungswege aufzeigen, sei es bei Produktideen, Fertigungs-, Distributions- und Konsumptionsverfahren oder bei gestalterischen Prozessen.
5. Kulturelle Konsequenzen
Für die Forschung an der HSLU bedeutet dies, dass sie bei ihrer Suche nach gestalterischen Lösungen die kulturellen Konsequenzen ihrer Arbeit verstärkt in den Blick nehmen und ihre Forschungsprojekte entsprechend reflektieren muss. Diese Perspektive ist nicht nur empfehlenswert, um neue gestalterische Wege überhaupt gehen zu können, sie ist vielmehr geboten, da sonst die Gefahr besteht, dass sie Resultate hervorbringt, die zur Aufrechterhaltung einer nicht nachhaltigen Kultur beiträgt. Dazu bedient sie sich des wissenschaftlichen Instrumentariums der Kulturgeschichte und rezipiert die Forschung zur materiellen Kultur.6
6. Akteur:innen und Partizipation
Eine von vielen Möglichkeiten, diese kulturelle Dimension zielführend in den Projekten zu operationalisieren, besteht darin, die an einem Projekt beteiligten Akteurinnen und Akteure genauer in den Blick zu nehmen. Die jüngere Forschung hat zudem aufgezeigt, dass die Vorstellung, Designende seien die alleinigen Urheber von gestalterischen Lösungen und Innovationen nicht zielführend ist. Vielmehr spielt für den Gestaltungsprozess die Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle, die bei Designprozessen partizipieren sollte, wie Konsumierende und weitere von Designinterventionen Betroffene.7 Ihre Zielvorstellungen und Ideen sowie ihre Handlungsroutinen und Gedankengebäude sind bei allen Projekten einer kulturkritischen, holistischen Betrachtung zu unterziehen. Dabei wird hier ein sehr weit gefasster Akteur:innen-Begriff verwendet. In jüngerer Zeit wurde darauf hingewiesen, dass beispielsweise auch Material oder Werkzeuge Anteil am Produktions- und somit ebenso am Designprozess haben.8 Deren Eigenleben oder Funktionsprinzipien sind ebenfalls zu betrachten.
Neben diesen kulturellen Akteur:innen sind auch nicht menschliche Akteur:innen in den Blick zu nehmen. Alle gestalterischen Prozesse stehen in Wechselwirkung mit der Natur. Projektbezogen sind entsprechend relevante Akteur:innen zu identifizieren, Relationen der Akteur:innen zueinander zu untersuchen und in den Blick zu nehmen und miteinzubeziehen.9 In Anerkennung der Erkenntnis, nach der eine klare Natur-Kultur-Unterscheidung unmöglich ist, muss hier über klassische Nachhaltigkeitsanalysen hinausgegangen werden. So sind unsere kulturellen Praxen beim Austausch mit den natürlichen Akteur:innen zu beleuchten und beispielsweise gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse zu betrachten.
7. Rollen des Designs
Designende sind als Mittler:innen zwischen all diesen Akteur:innen zu betrachten. Die Rolle der Designer:innen in Forschungsprozessen erstreckt sich ausgehend von der Fachkompetenz des Materials und der Prozesstechnologien entlang der „Four Orders of Design“ über die Formgebung hin zu Interaktionen und Prozessgestaltungen.10 Im Austausch mit den Akteur:innen schaffen Designende in Projekten neue transformative Lösungen und Produkte.11 Der Blick auf die kulturellen Verflechtungen der beteiligten Akteur:innen ermöglicht Designenden, nicht nur ökologisch-kulturelle Konsequenzen ihrer Lösungsvorschläge zu antizipieren, sie helfen ihnen auch bei der Hervorbringung von transformativen Ideen und deren Überprüfung der Machbarkeit durch Prototyping.12 13 Denn anstatt sich zu Agent:innen von beteiligten Akteur:innen zu machen (in der Regel zu den Auftraggebenden) für den sie alle anderen Akteur:innen manipulieren, ist es durch ihre vermittelnde Rolle möglich, die Zielvorstellungen selbst in den Designprozess einzubeziehen und zu modifizieren. Designende hinterfragen beispielsweise Bedürfnisse und helfen dabei präzisiere Zielvorstellungen zu entwickeln. Entsprechend sind Forschungsprojekte kooperativ anzulegen.
Um dieser Aufgabe gerecht zu werden haben Designende in den Forschungsprojekten auch edukative Aufgaben.14 Zu ihrem Auftrag gehört es auf nachhaltigkeitsbezogene Konsequenzen von Projektzielen und Lösungsvorstellungen hinzuweisen. Zugleich haben sie aufzuzeigen, welche kulturellen Konsequenzen Projektvorstellungen haben, und welche Chancen und Risiken sich dabei zur Transformation ergeben, hin zu einer wieder nachhaltigen Kultur. Auf diese Weise soll es möglich werden, gesellschaftliche Akteur:innen in die Gestaltung neuer Produkte für eine nachhaltige Kultur umfassend mit einzubeziehen. Dies ist unbedingt notwendig, da dieser enorme Transitionsprozess nur gelingen kann, wenn er von der Gesellschaft als Ganzes getragen wird.15
8. Mehrwerte
Die Anwendungsorientierung der Forschungsgruppe CC PT ermöglicht die Reflektion der Mehrwerte, welche durch das Design in Konstellation mit der Wirtschaft, der Gesellschaft und weiteren Akteur:innen und den gemeinsam angeregten Veränderungsprozessen entstehen.16 Aus der Designkompetenz heraus werden die Relationen der Akteur:innen aktiv verdeutlicht, Bedeutungen untersucht, Akzeptanz geschaffen und ein Verständnis für die kollektive Idee der Nachhaltigkeit etabliert. Designer:innen untersuchen und bewerten dabei die Wirkungsebenen ihres Forschungsprozesses zugunsten der Hervorbringung neuer Wertigkeiten und Bedeutungen für die nachhaltige Transition.
Autor:innen: Gassler Cornelia, Leysieffer Jonas, Moor Tina, Müggler Isabel, Wagner Nora
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1 Raworth 2018.
2 Kehnel 2021.
3 Brand/Wissen 2017; Sommer/Welzer 2017.
4 Welzer 2019.
5 Sommer/Welzer 2017.
6 Ludwig, 2020.
7 Brocchi 2017; Wuelser et al. 2020.
8 Latour, 2009; Barad, 2020; Haraway, 2018; Soentgen, 2014; Dörrenbächer, 2022.
9 Dörrenbächer, 2022.
10 Ingold, 2013; Buchanan, 2001.
11 Willener et al. 2019.
12 Hérnandez, 2018.
13 TRL steht als Abkürzung für Technology Readiness Level. Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Technology_Readiness_Level zuletzt aufgerufen am 7.12.2022; Kommentar: TRL1 bis und mit TRL6 beinhalten Zielsetzungen, welche forschungsgetrieben entwickelt werden können, ab TRL 7 übernimmt der Partner im Markt die Verantwortung für die Verwertung und Weiterentwicklung der Forschungsergebnisse.
14 Brocchi 2021; Wuelser et al. 2020.
15 Hopkins 2014; Mondardini et al. 2021.
16 Heskett, 2017; Kommentar: die Wirtschaft-Theorie von Heskett ist aus heutiger Sicht problematisch (Stichwort «De-Growth»), trotzdem scheint an dieser Stelle der Aspekt bemerkenswert, dass in seinem Mehrwert generierenden Model Design auf erster oberster Stufe verortet ist.
Literaturliste
Barad, K (2020): Agentieller Realismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Brand, U und Wissen, M (2017): Imperiale Lebensweise, Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München: oekom verlag.
Brocchi, D (2021): Soziale Nachhaltigkeit gestalten. Skript des Vortrages vom 11.11.2021 an der HSLU – D&K.
Buchanan, R. (2001): “Designresearch and the New Learning” (based on presentation held at London Design Counsil in March 1999), Design Issues, Vol. 17, Nr. 4
Dörrenbächer, J. (2022): “Distanz durch Nähe, Animistische Praktiken für kritisches Design” (Response-ability, p. 98), Basel: Birkhäuser Verlag
Mondardini, R M et al. (2021): Praticing Citizen Science in Zurich: Handbook. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/207987/
Haraway, D. J (2018): Unruhig bleiben - Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
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Heskett, J. (2017): “Design and the Creation of Value”, edited by Dilnot C. and Boztepe S., London: Bloomsbury Publishing
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Ingold, T. (2013) Making. Abingdon: Routledge.
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Willener A und Fitz A (Hrsg) (2019): Integrale Projektmethodik. Luzern: interact Verlag
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