Interview: Eva Schümperli-Keller
Laut dem Bundesamt für Statistik werden bis im Jahr 2030 über zwei Millionen Menschen in der Schweiz 65 Jahre oder älter sein. Ist die Schweiz darauf vorbereitet?
Albert Schnyder: Man spricht bei diesem Thema immer schnell von den Kosten. Die generationenübergreifende Unterstützung ist eine gesellschaftliche Aufgabe, welche die Schweiz schon immer hatte. François Höpflinger, der Doyen der Schweizer Demografie- und Altersforschung, hat berechnet, dass im Jahr 1860 100 Erwerbstätige 80 Unterstützungs- bedürftige durchbringen mussten, damals natürlich vor allem Kinder und Jugendliche. Heute steht das Verhältnis bei 100 zu 63. Von diesen 63 Unterstützungsbedürftigen sind 31 Jugendliche in der Ausbildung, 32 sind Seniorinnen und Senioren. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt: Wir können uns das leisten.
Welche Ansprüche sollte eine zukunftsfähige Alterspolitik erfüllen?
Jürgen Stremlow: Da ist sich die Fachwelt einig: Eine moderne Alterspolitik sollte eine breite Palette von Handlungsfeldern umfassen. Früher hat man den Blick relativ isoliert auf die Gesundheitsförderung und Pflege gelegt; das hat sich geändert.
Albert Schnyder: Es hat ein eigentlicher Bewusstseinswandel stattgefunden. Verschiedene Faktoren haben diesen beeinflusst, etwa die visionären Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, die sich auf die Politik der Länder ausgewirkt haben, oder die Arbeit der Hochschulen, die zunehmend in diesem Bereich forschen.
Jürgen Stremlow: Für unser Projekt haben wir fünf wegweisende Handlungsfelder der Alterspolitik definiert: Erstens braucht es eine politische Strategie. Zweitens soll die Gesundheit der älteren Bevölkerung gefördert werden. Drittens sollen ältere Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und viertens altersgerecht wohnen können. Fünftens sollen sie sich möglichst uneingeschränkt im öffentlichen Raum bewegen.
Welche Bedürfnisse haben die heutigen Seniorinnen und Senioren?
Jürgen Stremlow: Sie möchten so lange wie möglich zu Hause wohnen. Darauf muss die Alterspolitik ihre Angebote abstimmen. Es gibt heute schon Gemeinden, die ihr Wohnangebot mit Servicedienstleistungen auf- und ausbauen oder ihre Pflegeheime weiterentwickeln zu Quartierdienstleistungszentren für die ältere Bevölkerung. Dort, wo diese eine Vielzahl von Dienstleistungen – von der Nachbarschaftshilfe bis zur Palliative Care – niederschwellig in Anspruch nehmen kann. Wir sprechen von integrierter Versorgung.
Albert Schnyder: So lange wie möglich daheim zu leben, darf aber nicht zu einer Pflicht verkommen, weil man denkt, das sei günstiger als die stationäre Unterbringung in einem Heim. Also: Selbstständiges Wohnen nicht um jeden Preis, sondern die Bedürfnisse der Betroffenen sollten im Zentrum stehen.
Ihr Forschungsprojekt «Kompass kommunale Alterspolitik» unterstützt die Gemeinden bei der Gestaltung einer umfassenden Alterspolitik. Wie funktioniert das?
Jürgen Stremlow: Der Kompass besteht aus einem Prozessmodell oder Standardablauf und sechs Analysetools. Zuerst werden die bisherige Alterspolitik der Gemeinde und das Entwicklungspotenzial analysiert und die Ergebnisse in einem Gemeindeporträt festgehalten. Anhand der Ergebnisse dieser Basisanalyse entscheiden sich die Gemeindeverantwortlichen, welche weiterführenden Analysetools sie anwenden wollen. Am Schluss dieses Prozesses verfügt die Gemeinde über belastbare und vielfältige Grundlagen für die strategische Planung ihrer zukünftigen Alterspolitik.
Was ist das Innovative am Projekt?
Albert Schnyder: Dass wir einen umfassenden Ansatz verfolgen. Es gibt andere Projekte, die mit Tools arbeiten, aber da geht es jeweils primär um die Kosten. Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Fokussierung auf konkret anwendbare Analyseinstrumente. Damit unterstützen wir die Weiterentwicklung hin zu einer Alterspolitik, die sich am aktuellen Stand des Wissens und am Standard moderner Kriterien ausrichtet. Das ist uns ein wichtiges Anliegen.
Wie gross schätzen Sie das Interesse am Kompass ein?
Jürgen Stremlow: Es gibt in der Schweiz um die 2’000 Gemeinden, die zuständig sind für die Alterspolitik. Pro Senectute, unsere Praxis- und Umsetzungspartnerin, möchte im Rahmen ihrer Gemeinwesenarbeit möglichst viele Gemeinden unterstützen. Wir würden uns freuen, wenn möglichst viele Gemeinden erreicht werden könnten.
Inwiefern profitieren die Gemeinden?
Albert Schnyder: Sie erhalten mit wenig Aufwand eine differenzierte Grundlage für die Gestaltung ihrer Alterspolitik. Gleichzeitig können sie sich gegenüber anderen Gemeinden abgrenzen und der Öffentlichkeit zeigen: «Schaut her, wir entwickeln für unsere Seniorinnen und Senioren die bestmögliche Lebensqualität!» Das Alter ist ein zunehmend lukrativer Markt. So sind alte Menschen tendenziell zuverlässige Mietzinszahlende; das ist interessant für Bauinvestorinnen und Bauinvestoren oder Pensionskassen, die in einer Gemeinde bauen wollen. Mit dem Kompass kann eine Gemeinde besser auf solche Anfragen reagieren.
Für das Projekt spannen die Departemente Soziale Arbeit und Wirtschaft zusammen. Welchen Mehrwert bringt diese interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Jürgen Stremlow: Die Soziale Arbeit ist ein gesellschaftlicher Bereich, der mehrheitlich von der öffentlichen Hand finanziert wird. Für viele Fragen des Sozialwesens ist wirtschaftliches Wissen relevant. Da ist diese interdisziplinäre Zusammenarbeit unserer beiden Departemente ein grosser Vorteil.
Albert Schnyder: Die Hochschule Luzern hat sich das interdisziplinäre Forschen, Lehren und Lernen schon immer auf die Fahne geschrieben und fördert die departementsübergreifende Zusammenarbeit seit vielen Jahren. Und dann gibt es die ganz praktische Ebene: Wir vom Departement Wirtschaft haben Anfragen von Gemeinden ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen von der Sozialen Arbeit. Dafür bringen wir unsere Kompetenzen zusammen. Das ist ein Gewinn für alle.
Am Projekt ist Pro Senectute beteiligt. Wie ist die Zusammenarbeit entstanden und was sind die Vorteile davon?
Jürgen Stremlow: Wir haben vor einiger Zeit eine Studie zu den Kriterien guter kommunaler Alterspolitik gemacht. Dafür haben wir Partnerinnen beigezogen, unter anderem auch Pro Senectute. Sie ist im Bereich der ambulanten Beratung der älteren Bevölkerung die grösste Hilfsorganisation der Schweiz und wie wir auch stark daran interessiert, Alterspolitik aus gesundheitlicher und sozialarbeiterischer Sicht ganzheitlich zu denken.
Albert Schnyder: Pro Senectute ist die ideale Partnerin, da sie mit ihren Regionalorganisationen flächendeckend vertreten ist, nahe an den Gemeinden agiert und sehr gut mit den ambulanten Beratungsleistungen vernetzt ist.
Was wünschen Sie sich für Ihr eigenes Alter?
Jürgen Stremlow: Die erste Zeit der Pensionierung ist für viele Menschen die Phase der höchsten Individualisierung in ihrem Leben. Diese muss man wieder aufgeben, wenn man in der letzten Lebensphase Pflege und Betreuung benötigt. Dieser Übergang ist eine grosse Herausforderung, und ich wünsche mir, dass er mir gut gelingt.
Albert Schnyder: Im Alter muss man damit umgehen, dass das eigene Leben nicht mehr so lange dauert, wie es schon gedauert hat. Der Schauspieler Peter Ustinov fragte einmal rhetorisch: «Meinen Sie eigentlich, alt werden sei lustig?» Für mein eigenes Alter wünsche ich mir Selbstständigkeit, Gesundheit und dass es meinen Lieben gut geht.
Interview mit Sonya Kuchen von Pro Senectute
Pro Senectute setzt sich seit mehr als 100 Jahren für die ältere Bevölkerung der Schweiz ein. Sonya Kuchen, Mitglied der Geschäftsleitung, über ihre Organisation, moderne Alterspolitik und die Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern.
Warum ist die Stiftung Pro Senectute so wichtig und welche Dienstleistungen erbringt sie?
Pro Senectute ist die grösste Fach- und Dienstleistungsorganisation für ältere Menschen und deren Bezugspersonen in der Schweiz. 1’800 Mitarbeitende in 130 Beratungsstellen und 18’400 Freiwillige erbringen vielfältige Dienstleistungen. Mit Beratungen und Dienstleistungen – vom Mahlzeitendienst über soziale Aktivität bis zur Unterstützung im eigenen Daheim – unterstützen wir in allen Belangen rund um das Alter. Oberstes Ziel ist der Erhalt der Autonomie und der Selbstbestimmung der Seniorinnen und Senioren. Dabei spie len Unterstützungsangebote für betreuende Angehörige eine wichtige Rolle, um den älteren Menschen ein selbstständiges und würdevolles Verbleiben in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter zu ermöglichen. Wir fördern mit täglich über 450 Kursen in Bewegung, Weiterbildung und Kultur zudem die Lebensgestaltung und setzen uns so aktiv für eine Prävention sowohl in körperlicher als auch geistiger Hinsicht ein.
Welche gesellschaftlichen Fragen zum Thema Alter beschäftigen Ihre Organisation besonders?
Mehrere Themen. Ein zentrales Thema ist die Betreuung im Alter zu Hause, wo 96 Prozent der Seniorinnen und Senioren heute leben. In vielen Fällen sind gute, professionelle und vor allem finanzierbare Dienstleistungen gefragt, um die ältere Bevölkerung inklusive deren Bezugspersonen zielgerichtet zu unterstützen. Altersfreundliche Gemeinden sind ein weiteres wichtiges Thema. Das heisst, dass bezahlbarer Wohnraum, Apotheken, Einkaufsmöglichkeiten in Reichweite oder etwa Sitzgelegenheiten für Verschnaufpausen vorhanden sind. Eine kommunale Alterspolitik, welche die Bedürfnisse der älteren Menschen berücksichtigt, wird dem gerecht. Denn der Anteil an hochaltrigen Menschen, die zu Hause leben wollen, steigt stetig. Es ist wichtig, Gemeinden bei der Weiterentwicklung ihrer Alterspolitik und deren Umsetzung zu unterstützen, denn eine seniorenfreundliche Umgebung hört nicht vor der Wohnungstür auf, sondern beginnt dort.
Wo sehen Sie Chancen in Ihrer Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern?
Die Verschmelzung von wissenschaftlicher und praktischer Erfahrung ist ein Gewinn für beide Seiten. Hinzu kommt, dass in gemeinsamen Projekten häufig auch Gemeinden mit dabei sind. Pro Senectute ist es ausserdem wichtig, dass auch junge Fachkräfte von dieser Zusammenarbeit profitieren und wichtiges Wissen für ihre weiteren Karrieren sammeln können. Das Innosuisse-Projekt «Kompass kommunale Alterspolitik» ermöglicht genau das. Wissenschaftliche Basisarbeit gekoppelt mit der Erfahrung von Pro Senectute und von Gemeinden sollen taugliche Instrumente liefern, um die Gemeinden beim Ausgestalten und Umsetzen ihrer Alterspolitik in Zukunft noch erfolgreicher zu unterstützen.
Der Soziologe und Sozialarbeiter Jürgen Stremlow ist Forschungsleiter, Dozent und Institutsleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Steuerungs- und Planungsgrundlagen im Sozialbereich gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten.
Der Historiker Albert Schnyder Burghartz wurde kurz nach dem Interview pensioniert. Bis dahin war er Dozent an der Hochschule Luzern – Wirtschaft und befasste sich viele Jahre lang mit dem strategischen Management im öffentlichen Sektor.
Sonya Kuchen ist Mitglied der Geschäftleitung von Pro Senectute.
Projekt «Kompass kommunale Alterspolitik»
Neben der Hochschule Luzern und Pro Senectute sind fünf Pilotgemeinden am Projekt beteiligt. Es wird von Innosuisse – Schweizerische Agentur für Innovationsförderung – unterstützt. Nach Projektabschluss steht ein in der Praxis getestetes Prozessmodell mit sechs Tools zur Verfügung, das Pro Senectute in den Gemeinden einsetzen wird.
Das Projekt unterstützt diese bei der Gestaltung ihrer Alterspolitik. Mehr unter: hslu.ch/kompass-kommunale-alterspolitik