Interview: Mirjam Wishart-Aregger
Cathrin Habersaat, die Folgen der Corona-Krise treffen Alleinerziehende, Teilzeitarbeitende oder auch Selbstständige besonders hart. Wie können wir diese Gruppen besser schützen?*
Fest steht: Unser soziales Sicherungssystem bietet vielen Menschen einen weitreichenden Schutz vor finanziellen Folgen, die sie nicht alleine bewältigen können. Dies zeigt die Krise eindrücklich. Es zeigt sich aber auch, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen schlechter vor Risiken geschützt sind. Denn das System, das ab den 1920er-Jahren entstand, ist auf klassische vollzeitliche Lohnarbeit und traditionelle Familienmodelle ausgerichtet. Anpassungen erfolgen eher zaghaft und berücksichtigen andere Lebensformen oder flexiblere Formen von Erwerbstätigkeit nur marginal. Hinzu kommt der prägende Grundgedanke der Eigenverantwortung in unserem System: Kinderbetreuung etwa gilt in der Schweiz als private Aufgabe. Alleinerziehende und erwerbstätige Eltern haben daher ein erhöhtes Risiko, bei Krisen durch finanzielle Einbussen in die Armut abzurutschen.
Die Corona-Pandemie hat uns somit die Stärken, aber auch die Schwächen im Sozialversicherungssystem vor Augen geführt: Elternarbeit, flexible Erwerbstätigkeit, arbeitgeberähnliche Anstellungen und Selbstständigkeit müssen, zumindest vorübergehend, abgesichert werden. Ob sich unser Sozialsystem langfristig den neuen Verhältnissen in Arbeit und Gesellschaft anpasst, bleibt abzuwarten.
Was braucht es, damit dies gelingt?
Es braucht eine ganzheitlichere und übersichtlichere Konzeption der sozialen Sicherheit, die an die neuen Realitäten angepasst ist. In meinem Fachgebiet, der Sozialhilfe, stellen sich Fragen, wie man Arbeitslose mit niedrigem Qualifikationsniveau oder Leistungsbeeinträchtigungen wieder fit für den veränderten Arbeitsmarkt macht und wie man mit Selbstständigen oder älteren Arbeitslosen umgeht. Es braucht neue Ansätze und Investitionen in diese Personengruppen.
Wie wirkt sich die erwartete Rezession auf die Sozialhilfe aus?
Sobald die vorgelagerten Sicherungssysteme nicht mehr greifen, rutschen vermehrt Personen in die Sozialhilfe. Die Betroffenen haben tendenziell einen höheren Beratungsbedarf, da das komplizierte System der Sozialleistungen durch die neu geschaffenen Ansprüche noch undurchschaubarer wird und belastende Lebenssituationen vermehrt Bewältigungshilfe notwendig machen. Gleichzeitig stehen die Sozialdienste unter zunehmendem Kostendruck und müssen mit weniger Ressourcen mehr Klientinnen und Klienten betreuen. Ich befürchte, dass die Attraktivität für das Berufsfeld aufgrund der steigenden Belastung weiter sinkt und sich dadurch noch weniger Fachkräfte für den eigentlich vielfältigen Arbeitsbereich begeistern können. Das könnte einen Qualitätsverlust zur Folge haben.
Was raten Sie Ihren Studierenden als künftigen Fachpersonen der Sozialarbeit?
Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass sich Sozialarbeitende für die Betroffenen einsetzen und ihren Ermessensspielraum nutzen. «Engagiert euch und verleiht euren Klientinnen und Klienten damit eine Stimme!» – gebe ich den Studierenden immer mit auf den Weg.
Die Tatsache, dass Corona nun auch die Allgemeinheit mehr für die Lücken im System sensibilisiert hat, kann eine grosse Chance sein, diese aktiver anzugehen. Die Sozialarbeit ist jetzt besonders gefordert, sich für diese vulnerablen Personen stark zu machen, eine Veränderung aktiv einzufordern und ihre Expertise in die öffentliche Diskussion einzubringen. So kann eine grossartige Errungenschaft der Schweiz weiter optimiert werden.
Grosse Teile der Bevölkerung wurden in der Krise durch staatliche Leistungen aufgefangen. Nähern wir uns doch der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens?
Wir bewegen uns näher an diesem Konzept als auch schon. Da es aber mit immensen Kosten verbunden ist und einen kompletten Richtungswechsel unserer von «Eigenverantwortung» geprägten Sozialpolitik bedeutet, stehen die politischen Chancen wohl weiterhin eher schlecht. Die Krise bietet aber wie gesagt Gelegenheit, sozialpolitische Themen als Ganzes zu hinterfragen, statt die bisherige «Pflästerlipolitik» weiterzuführen.
Wie hat sich die Corona-Krise auf Ihre Arbeit an der Hochschule Luzern ausgewirkt?
Mich hat die Umstellung auf Online-Unterricht als Dozentin sehr gefordert und beschäftigt mich weiterhin. Ich vermute, wir werden uns noch länger mit den neuen Umständen arrangieren und flexibel bleiben müssen. Der Arbeitsalltag bleibt weiter spannend, ein Grund, weshalb ich meinen Job aber auch so liebe.
*Das Interview wurde im Spätsommer 2020 geführt.
Cathrin Habersaat leitet das Kompetenzzentrum Soziale Sicherung am Institut Sozialarbeit und Recht. Die junge Dozentin ist langjährige Sozialarbeiterin und lehrt zu rechtlichen und sozialarbeiterischen Aspekten im Sozialwesen.
Kompetenzzentrum Soziale Sicherung
Das Kompetenzzentrum der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit unterstützt Mitarbeitende in Sozialdiensten, Sozialberatungsstellen und weitere Fachpersonen bei ihren Aufgaben rund um die Absicherung von sozialen Risiken und bei der sozialen und beruflichen Integration. Angeboten werden verschiedene Weiterbildungen auf den Stufen MAS, CAS sowie Fachkurse. Weitere Informationen unter: hslu.ch/soziale-sicherung