In der Horizon-Studie RESIST haben Teams in verschiedenen Ländern untersucht, wie Anti-Gender-Politiken in verschiedenen Ländern aussehen. Zu diesen Politiken zählen Bestrebungen, die auf die Einschränkung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie auf die Gleichstellung der Geschlechter abzielen. Ebenfalls untersuchten die Forschenden mit Hilfe von qualitativen Interviews, wie sich Anti-Gender-Politiken auf feministische und LGBTIQ+-Personen und -Communities auswirken. Darüber hinaus zeigen die Interviews Reaktionen und Widerstandsmöglichkeiten auf. Stefanie Boulila, Studienleiterin an der Hochschule Luzern, und ihr Team haben die Situation in Deutschland untersucht.
Systematische Verbreitung von Anti-Gender-Positionen
In Deutschland hat das Erstarken rechter Positionen – insbesondere der AfD – den öffentlichen Diskurs beeinflusst; welche Aussagen toleriert werden, hat sich verschoben und auch die Methoden zur Durchsetzung von sozialpolitischen Ansichten haben sich verändert. Feministische und LGBTIQ+-Personen und -Communities gehören zu den Gruppen, die dies besonders stark zu spüren bekommen. So nimmt zum Beispiel die AfD systematisch mit parlamentarischen Anfragen auf Landesebene Bildungsinitiativen ins Visier, die sich auf LGBTIQ+-Themen oder Antifeminismus konzentrieren. Die Studienteilnehmenden berichteten auch von einem feindseligen Fokus auf Trans* Menschen im Zuge der Debatte zum Selbstbestimmungsgesetz. Mehrere der in der Studie befragten Personen zeigen sich darüber besorgt.
Der öffentliche Diskurs hat sich verschärft
In einem Punkt sind sich alle Befragten einig: Ein öffentlicher Diskurs über feministische und LGBTIQ+-Themen sei gerade jetzt besonders wichtig. Dies nur schon deshalb, weil sie Unwissen als Auslöser für antifeministische und queerfeindliche Politiken sehen. Die Befragten sind überzeugt, dass der öffentliche Dialog wichtig ist, um die breite Gesellschaft in umstrittene Themen einzubeziehen. Und so sind viele auch bereit, sich für politische Bildung, den demokratischen Dialog und positive Sichtbarkeit zu engagieren. Ihre Erfahrungen dabei bewogen einige allerdings dazu, sich ein öffentliches Engagement zwei Mal zu überlegen. Denn Stellung beziehen beinhaltet im aktuellen Diskurs auch das Risiko, dass die Reaktionen nicht nur auf die Position, sondern direkt auf die Person zielen. Mehrere der Befragten haben dies schon erlebt. Sie sind zum Teil aggressiv bedroht worden, von Online-Mobbing und Medienkampagnen bis hin zur organisierten Störung von Veranstaltungen, Drohungen und körperlicher Gewalt. Mindestens eine Teilnehmerin brauchte in der Folge Polizeischutz. Die Betroffenen berichteten, dass sie meist auf private Ressourcen angewiesen waren, um mit den Folgen der Angriffe umzugehen, auch wenn sie die Übergriffe im Kontext ihrer Lohnarbeit erfuhren. Dies deshalb, weil sie sich von den Institutionen, in denen sie arbeiten und in deren Auftrag sie sich zum Teil äussern, bei antifeministischen und queerfeindlichen Angriffen alleingelassen fühlten, weil es keine Verfahren zur Bewältigung solcher Angriffe gab.
Mehrfach marginalisierte Personen sind mehrfach betroffen
Studienteilnehmende, die Rassismus erlebt haben, behindert sind oder sich als trans*, inter* oder lesbisch identifizieren, hielten fest, dass sie auch eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber der Inklusion von Menschen mit Behinderungen und gegenüber Antirassismus erleben. Dies führt dazu, dass sich Betroffene vermehrt hilflos und gestresst fühlen, was sich bei einigen auf die mentale Gesundheit auswirkt. Gerade für Teilnehmende mit Behinderung schränken die Erfahrung körperlicher Angriffe und die Angst vor weiteren Übergriffen die Mobilität ein, weil sie zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel vermeiden.
Gegenmaßnahme: Solidarität und Unterstützung durch Gleichgesinnte
Verschiedene Teilnehmende sprachen von der Erleichterung, eine Community zu haben, in der ihre Identitäten, Erfahrungen und Werte nicht zur Debatte stehen und in der sie nicht mit einer Unsichtbarmachung und Ausradierung konfrontiert sind. Die Zusammenarbeit, das Bilden von Koalitionen und die Solidarität innerhalb der queeren Community und mit anderen marginalisierten Gruppen sahen die Befragten als Form des Widerstands und als hilfreiche Strategie. In professionellen Kontexten stärke das Teilen von Ressourcen die Widerstandsfähigkeit. Die Teilnehmenden betonten dabei die Rolle von informellen, institutionsübergreifenden Netzwerken und Koalitionen. Sie sprachen auch über die Gefahr von Spaltungen innerhalb der Community, die sich häufig im Zusammenhang mit mehrfachen Marginalisierungen oder isolierten, unterrepräsentierten Gruppen ergeben. Eine Solidaritätspolitik mit anderen Minderheiten, die in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt sind, wie Migrant*innen, People of Colour oder Menschen mit Behinderungen, erachteten die Befragten als wünschenswert.
Das Horizon-Projekt RESIST
Das Projekt wird von der der Hochschule Luzern in Zusammenarbeit mit dem University College Dublin, der Edinburgh Napier University, der Europa-Universität Viadrina, der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, der Université de Lausanne, der Université de Fribourg, der Maynooth University, der Universitat Pompeu Fabra und dem Feminist Autonomous Centre for Research, Athen durchgeführt.
Der Fallstudienbericht stützt sich auf qualitative Daten und Auskünfte von insgesamt 254 feministischen und LGBTIQ+-Aktivist*innen, öffentlichen Intellektuellen und Menschen der breiten Öffentlichkeit. In europaweit 104 Interviews und 36 Fokusgruppen wurden insbesondere deren persönliche Erfahrungen mit Queerfeindlichkeit, Antifeminismus, Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen, Ablehnung von Sexarbeit sowie mit sexualisierten und geschlechtsspezifischen Rassismen und anderen Formen der Mehrfachdiskriminierung untersucht.
Die Untersuchung für Deutschland stützt sich auf die Angaben von 24 Forschungsteilnehmenden; ihre Resultate wurden durch die Gesamtstudie bestätigt.