«Anti-Gender»-Politik bezeichnet Bestrebungen, die auf die Einschränkung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie auf die Gleichstellung der Geschlechter abzielen. Sie manifestiert sich in unterschiedlichen nationalen Kontexten in Süd-, Ost- und Westeuropa. Obwohl sie primär mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht wird, findet man sie im gesamten politischen Spektrum. Ein internationales Forschungsprojekt hat untersucht, in welcher Form sich solche «Anti-Gender»-Politiken in verschiedenen europäischen Ländern zeigen.
Europaweites Forschungsprojekt
Die Studie ist die erste länderübergreifende Untersuchung, die «Anti-Gender»-Politik in Parlamenten, Medien und öffentlichen Kontroversen in einem europaweiten Kontext beleuchtet. Untersucht wurden 200 Parlamentsdebatten auf nationaler Ebene und über 2000 Zeitungsartikel aus 87 Medien in Ungarn, Polen, der Schweiz, dem Vereinigten Königreich und dem Europäischen Parlament im Zeitraum von 2015 bis 2023 Die Forschungsergebnisse zeigen mehrere Muster, mit denen die Rechte von Frauen und LGBTIQ+ Personen in diesem Zeitraum in Frage gestellt wurden. In allen untersuchten Ländern zeigte sich, dass insbesondere die Rechte von trans Menschen und die Anerkennung von LGBTIQ+-Rechten durch regelmässige politische Vorstösse oder parlamentarische Debatten in Frage gestellt wurden.
«Eine Schlüsseltaktik ist der Versuch, jede Form von LGBTIQ+-Sichtbarkeit und -Fürsprache als ‚aggressiven Aktivismus‘ zu kategorisieren», sagt Prof. Dr. Stefanie Boulila. In parlamentarischen Debatten geschehe dies häufig durch den Vorwurf, dass der «Mehrheitsbevölkerung» Ideen und Werte einer nicht repräsentativen Minderheit aufgezwungen würden. «So kann ein Politiker oder eine Politikerin sich als Verteidiger der Rechte von Kindern oder Eltern, der Redefreiheit oder sogar der Demokratie präsentieren», so die HSLU-Dozentin.
«Anti-Gender»-Politik in der Schweiz
Die Hochschule Luzern, die Universität Lausanne und die Universität Freiburg haben im Rahmen dieses europaweiten Projektes die Schweiz auf «Anti-Gender»-Politiken untersucht. Die Studienergebnisse machen deutlich: Auch in der Schweiz gibt es «Anti-Gender»-Politik.
Beispielsweise zeigt sich «Anti-Gender»-Politik hierzulande im Diskurs zur vermeintlichen Frühsexualisierung von Kindern und der Förderung verschiedenster geschlechtlicher und sexueller Identitäten. Die Studie zeigt, dass im politischen Diskurs die Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt häufig mit einer vermeintlichen Gefährdung von Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht wird. So würden zum Beispiel pädagogische Angebote wie nationale Aufklärungskampagnen oder Drag Queen Lesungen als unmoralisch und gefährdend kritisiert, wenn sie Kinder über Sexualitäten und queere Identitäten aufklären.
Was in der Schweiz besonders auffällig ist: In den Parlamentsdebatten zeigt sich «Anti-Gender»-Politik nur selten in Form von feindseligen oder hetzerischen Beiträgen, sondern mehrheitlich in Form von technokratischen und legalistischen Diskursen. In der Debatte über die Vereinfachung des Verfahrens zur Änderung des eingetragenen Geschlechts wurden Befürchtungen eines möglichen Systemmissbrauchs mit Blick auf das Rentenalter und den Wehrdienst ins Feld geführt. «Dies zeigt, dass der Widerstand gegen die Gleichstellung der Geschlechter und der sexuellen Orientierung nicht zwangsläufig in Form von emotional aufgeladenen und ausgeprägt ideologischen Diskursen erfolgen muss», sagt die Studienleiterin. Dadurch sei «Anti-Gender»-Politik nicht immer als solche greifbar.
Auswirkungen sollen untersucht werden
Herauszufinden, wie sich «Anti-Gender»-Politik in den verschiedenen Ländern zeigt, war ein Ziel dieser ersten Studie. Diese Erkenntnisse sollen nun ermöglichen, in weiterführenden Studien die Thematik genauer zu untersuchen. Die Forschenden wollen herausfinden, wie sich «Anti-Gender»-Politik auf Alltagserfahrungen, Meinungsfreiheit, akademische Freiheit, reproduktive Rechte sowie die Geschlechtervielfalt auswirkt. Die Studie soll im Herbst 2026 abgeschlossen werden.
Horizon RESIST
Das Projekt wird von der der Hochschule Luzern in Zusammenarbeit mit dem University College Dublin, der Edinburgh Napier University, der Europa-Universität Viadrina, der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, der Université de Lausanne, der Université de Fribourg, der Maynooth University, der Universitat Pompeu Fabra und dem Feminist Autonomous Centre for Research, Athen durchgeführt. Die transnationale Parlaments- und Medienanalyse wurde von der Maynooth University geleitet.
Horizon Europe ist das weltweit grösste Forschungs- und Innovationsförderprogramm und die von ihm geförderten Forschungsprojekte im Rahmen der Studie RESIST wurden in einem kompetitiven Verfahren ausgewählt. Die Studie wurde zusätzlich von Forschungsräten und Finanzierungseinrichtungen des Vereinigten Königreichs und der Schweiz gefördert.
Weitere Informationen über das Projekt sowie den Studienbericht finden Sie hier.