Vor zehn Jahren stimmte die Schweiz über den neuen Verfassungsartikel «Musikalische Bildung» (Art. 67a BV) ab. Er wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen und verankert das Ziel, die musikalische Bildung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, zu stärken. Nebst dem Musikunterricht in der Schule, für den die Kantone zuständig sind, existiert ein weites Feld an ausserschulischen Musiklernangeboten in der Schweiz – die Anbieter reichen von Musikschulen über Vereine bis zu überregionalen Verbänden, von Organisationen über projektbasierte Zusammenschlüsse bis hin zu Privatpersonen. Dieses Feld erstmals genauer unter die Lupe zu nehmen, war Ziel der Studie «Musiklernen Schweiz», die die Hochschule Luzern (HSLU) und der Verband der Musikschulen Schweiz (VMS) zusammen mit weiteren Partnern durchgeführt haben. Studienleiter Marc-Antoine Camp von der HSLU sagt: «Wir haben eine Branche untersucht, die mit ihrem hohen jährlichen Gesamtumsatz wirtschaftliches Gewicht besitzt und eine grosse gesellschaftliche Anerkennung geniesst. Denn das Musizieren dient nicht dem Selbstzweck der musikalischen Kompetenz. Es schafft eine gemeinsame kulturelle Identität bei Menschen aller Bevölkerungsschichten und jeden Alters.»
Vielfältige Rahmenbedingungen
Für die Studie stellte das Projektteam jene ins Zentrum, die Musiklernangebote durchführen sowie die dazu erforderlichen organisatorischen Rahmenbedingungen schaffen und sicherstellen: dies sind sowohl professionell ausgebildete Musiklehrpersonen als auch Amateurinnen und Amateure. Im Rahmen von Einzelunterricht oder in Gruppen leiten sie als Angestellte einer Institution, als Selbstständigerwerbende oder in Freiwilligenarbeit Menschen beim Musiklernen an. «Die ausserschulische Musiklernlandschaft stellt sich äusserst divers dar», erklärt Marc-Antoine Camp. «Das hängt mit der sprachlich-kulturellen Vielfalt, den liberalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und dem basisdemokratischen, föderalistischen politischen System der Schweiz zusammen.» All das trage zum Bestehen einer ausgeprägten Vereinslandschaft unter den Musiklernanbietenden bei. So sind drei Viertel der institutionellen Musiklernanbietenden als Vereine organisiert, die häufig wiederum in übergeordneten Verbänden zusammengeschlossen sind. «Dies einerseits, um einander fachlich zu unterstützen, andererseits, um ihre Interessen gegenüber der Politik zu bündeln», so Camp.
Finanzierung zum Grossteil über Beiträge der Lernenden
Hauptsächlich finanziert werden die Musiklernangebote mit Kursgebühren und Mitgliedsbeiträgen der Lernenden (durchschnittlich 42%) und durch jährliche Beiträge des öffentlichen Sektors (durchschnittlich 27%). «Nebst dieser Art der Finanzierung gehören die Kleinteiligkeit und ein hoher Anteil an Mehrfachtätigkeiten in Teilzeitpensen zu den besonderen Merkmalen der Branche», sagt Camp. So sind zwei Fünftel der Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer sowohl als Musiklehrperson an einer Musikschule als auch als selbstständige Musikschaffende tätig. Derartige Mehrfachtätigkeiten tragen auch zur Vernetzung bei. «Kooperationen werden von Musikschulen mit ihren vielfältigen Angeboten am meisten gepflegt», so Camp. Demnach geben 72 Prozent der Musikschulen an, mit einer Volksschule intensiv zusammenzuarbeiten.
Demographischer Wandel und digitale Lernformen als Herausforderungen
Musikschulen werden heute vor allem von Kindern (47%) und Jugendlichen (29%) besucht. Hingegen unterrichten selbstständige Musiklehrpersonen hauptsächlich Personen, die älter als 20 Jahre sind (63%). Erwachsene stellen auch in (Blasmusik-)Orchestern (71%) und Chören (70%) die grösste Gruppe dar. Bei Letzteren fällt der hohe Anteil an Seniorinnen und Senioren auf (30%). Befragt nach ihrer Einschätzung gehen vor allem Leitungspersonen künftig von einem sich ändernden Szenario aus, stellt Camp fest: «Viele vermuten, dass der Anteil von Erwachsenen aufgrund der demographischen Entwicklungen steigen wird. Angesichts der auf Kinder und Jugendliche ausgerichteten Unterstützung von Musiklernangeboten durch den öffentlichen Sektor stellen die erwarteten Altersstrukturen die musikalische Bildung möglicherweise vor Herausforderungen.»
Herausforderungen birgt auch die beschleunigte Digitalisierung: Gemäss Einschätzung der Studienteilnehmenden werden Online-Tutorials und Lernplattformen im Internet, Cloudanwendungen, Audio- und Video-Apps sowie die Nutzung von sozialen Netzwerken und Chatforen für künftige Musiklernangebote eine grosse Bedeutung haben. «Zugleich hat die Pandemie die Grenzen aktuell verfügbarer Technologien für den Fernunterricht deutlich gemacht», sagt Camp. «Die Bedeutung des Zusammenspiels vor Ort und des gemeinsamen Singens sind wieder vermehrt ins Bewusstsein gerückt.»
Zusammenarbeit verstärken, Zugänge erleichtern und kulturelle Teilhabe fördern
Christine Bouvard vom VMS hält fest: «Die Resultate der Studie mögen Musiklernanbietende zwar zu unterschiedlichen Strategieentwicklungen führen, aber sie legen Potenziale für gemeinsam getragene Entwicklungsrichtungen offen.» So regen die Studienautorinnen und -autoren zu konkreten Massnahmen an: etwa eine verstärkte Zusammenarbeit von ausserschulischen Musiklernanbietenden mit der Volksschule, aber auch ein Ausbau dezentraler und flexibler Angebote für Familien mit Kindern im Vorschulalter, für Angehörige tiefer Einkommensklassen, für Personen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung sowie ältere Erwachsene. «Solche Massnahmen tragen zur Durchdringung musikalischer Aktivitäten in der Gesellschaft, zur Förderung kultureller Teilhabe und zum hohen Stellenwert musikalischer Bildung bei», so Bouvard.
Die Studie «Musiklernen Schweiz» gibt eine Übersicht über ausserschulische Musiklernangebote in der Schweiz und stellt Akteurinnen und Akteure der Branche in ihrer Vielfalt und Komplementarität dar. Untersucht wurden Organisation, Vernetzung, Finanzierung und Qualitätssicherungsinstrumente der Musiklernanbietenden, Fachwissen und Ausbildungen von Musiklehrpersonen, Kursleitenden, Dirigentinnen bzw. Dirigenten und Chorleitenden sowie mögliche Einflüsse der Digitalisierung und des gesellschaftlichen Wandels auf zukünftige Musiklernangebote. Durchgeführt wurde die Studie vom Kompetenzzentrum Forschung Musikpädagogik (CC MER) der Hochschule Luzern und dem Verband Musikschulen Schweiz in Zusammenarbeit mit 37 Fachverbänden und Institutionen der Musikbildung. Nebst leitfadengestützten Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern dieser 37 Institutionen fand auch eine Online-Befragung bei vier Typen von Musiklernanbietenden statt: Musikschulen, instrumentale Grossformationen (Orchester und Blasmusiken), vokale Grossformationen (Chöre) sowie selbstständig erwerbende Musiklehrpersonen. Die Teilnehmenden beantworteten die Umfrage entweder als Leitungsperson einer Institution oder als Durchführende von Musiklernangeboten, wobei selbstständig erwerbende Musiklehrpersonen die Fragen für beide Funktionen beantworteten. Insgesamt wurden 1’218 Datensätze ausgewertet.
Die komplette Studie kann hier heruntergeladen werden (D, IT, FR, ENG).