Es war ein Unfall. Der Arbeitskollege hat uns beim Einparken mit dem Gabelstapler übersehen und gegen die Wand gedrückt. Wir sind eingeklemmt, können nur noch den Kopf bewegen. Uns wird schwarz vor Augen. Festgezurrt auf einer Bahre, kommen wir im Notfall zu uns. Die Ärzte bereiten die Operation vor. Werden sie unser Bein retten können? Der Film «Täglicher Kampf um Menschenleben – 360°-Video aus dem Schockraum » bietet keine leichte Kost. Aber die Immersion, das Gefühl, mittendrin zu sein, ist beeindruckend. Dank einer VR-Brille – VR steht für virtuelle Realität – tauchen Zuschauer buchstäblich in eine andere Welt ein, werden Teil davon. Indem man den Kopf dreht, schaut man sich im virtuellen Raum um. Irritierend ist bloss, dass die Bewegungen des eigenen Körpers nicht auf die virtuelle Film-Realität übertragen werden: Hebt man den Arm, bleibt dieser im Film unsichtbar.
«Disembodiment», Entkörperlichung, nenne sich diese Diskrepanz zwischen realer und virtueller Realität, erklärt Filmemacher Christophe Merkle. An der Werkschau 2017 des Departements Design & Kunst zeigte der ehemalige Master-Student Ausschnitte aus seinen 360°-Filmen, darunter «Täglicher Kampf um Menschenleben ». Für seine Abschlussarbeit erforschte Merkle die erzählerischen Möglichkeiten des jungen Mediums.
360°-Filme im Bourbaki Panorama
Mitten in Luzern steht ein Vorläufer des 360°-Films: das Bourbaki Panorama aus dem Jahr 1881. Es zeigt auf einem Rundgemälde, wie die französische Ostarmee von General Bourbaki am Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 in die Schweiz flieht. Ab 17.11.2017 bringt eine zweiwöchige Ausstellung 360°-Filme und verwandte visuelle Arbeiten mit ihrem historischen Vorbild zusammen. Parallel dazu lädt die Forschungsgruppe «Visual Narrative» der Hochschule Luzern zur Fachtagung «Display, Disruption, Disorder: Neue Formate, Akteure und Orte des Films». Sie findet im Rahmen des 140-Jahr-Jubiläums des Departements Design & Kunst statt (17. / 18.11.2017 in der Viscosistadt). www.hslu.ch/360grad
Der 360°-Film hat fast mehr mit dem Theater zu tun als mit dem klassischen Film
«Absoluter Glücksfall»
Inzwischen hat sich Merkles Arbeit zum gemeinsamen Forschungsprojekt der Hochschule Luzern und des Schweizer Fernsehens SRF weiterentwickelt, an dem er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beteiligt ist – «für mich ein absoluter Glückfall», so Merkle. Die Kommission für Technologie und Innovation des Bundes (KTI) finanziert das Projekt mit 190’000 Franken. Während eineinhalb Jahren produzieren die Hochschule und SRF gemeinsam eine Reihe von 360°-Filmen, «Täglicher Kampf um Menschenleben» ist einer davon.
Mehr Theater als Film
Die Kernfrage des Projekts lautet: Wie können Filmschaffende den 360°-Film einsetzen, um Geschichten zu erzählen? Denn seiner Bezeichnung zum Trotz habe dieser fast mehr mit dem Theater gemein als mit dem klassischen Film, sagt Film-Dozent Robert Müller. Während Christophe Merkles Studium war Müller dessen Mentor, nun leitet er das KTI-Projekt. «Die üblichen dramaturgischen Techniken wie Kameraschwenks, Bildausschnitte und Zooms funktionieren hier nicht gut», erläutert er. «Die Blicke der Zuschauerinnen und Zuschauer müssen durch Geräusche oder Bewegungen gelenkt werden – ähnlich wie auf einer Bühne.»
Beim Dreh eines 360°-Films stellt sich zudem ein praktisches Problem: Eine 360°-Kamera filmt gleichzeitig in alle Richtungen. Damit sie nicht mit aufs Bild kommt, muss sich die Crew verstecken – etwa hinter Säulen oder Bäumen. Sobald die Kamera laufe, so Robert Müller, seien die Schauspielerinnen und Schauspieler deshalb stärker auf sich selbst gestellt als normalerweise bei einem Film-Dreh.
Forschen und filmen
Hürden für 360°-Filmemacherinnen und -Filmemacher gibt es also viele. Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, wird Müllers Forschungsteam in den nächsten anderthalb Jahren gemeinsam mit SRF ein Nachschlagewerk kreieren. Es soll die Basis bilden für ein 360°-Film-Wiki mit internationaler Ausstrahlung. Das Kompendium besteht aus drei Teilen:
− Ein Leitfaden, der beschreibt, wie man Produktionsabläufe von VR-Filmen effizient und kostengünstig gestaltet.
− Ein «Workflow-Beschrieb». Darin werden für verschiedene Filmtypen passende Kameras, Dateiformate sowie andere technische Spezifikationen festgehalten.
− Schliesslich soll eine «Toolbox» Produzentinnen und Regisseuren von 360°-Filmen erzählerische Gestaltungsansätze für ihre Werke liefern.
Diesen direkten Transfer von der Theorie in die filmische Praxis schätzt Robert Müller besonders bei der Kooperation mit SRF: «Der Sender erhält ein theoretisches Fundament für 360°-Filme. Und wir können unsere Erkenntnisse fortlaufend bei jedem Filmprojekt in der Praxis überprüfen.»
Wenn Kamerabewegungen krankmachen
Den Pioniergeist beim 360°- Film vergleicht der Dozent mit jenem beim konventionellen Film vor 100 Jahren, «mit dem Unterschied, dass die technische Entwicklung heute rasanter ist als damals», so Müller. Er versuche sich vorzustellen, wie perplex die Besucherinnen und Besucher des ersten Kinos der Film-Pioniere Gebrüder Lumière gewesen sein mussten, fügt Merkle bei. Ähnlich gehe es wohl dem Publikum von 360°-Filmen. Er plädiert daher dafür, die Leute langsam ans neue Medium zu gewöhnen, statt ihm durch erzählerische und formale Experimente zu viel zuzumuten.
Tatsächlich wird manchen Zuschauerinnen und Zuschauern beim Ansehen von 360°-Filmen erst einmal schlecht. Christophe Merkle schätzt den Anteil auf rund zehn Prozent des Publikums. «Es sind oft die gleichen Leute, die mit Neigezügen Mühe haben.» Die Effekte dieser VR-Seekrankheit lassen sich verringern, indem man heftige, ruckartige Kamerabewegungen vermeidet oder im Film feste visuelle Bezugspunkte einbaut, an denen sich das Publikum orientieren kann, ähnlich wie Felsen im Meer.
Der «flatty» bleibt uns erhalten
Neben negativen gesundheitlichen Effekten steht dem Erfolg des 360°-Films vor allem die fehlende Verbreitung der VR-Brillen im Weg. Die ursprünglich aus der Videospiel- Industrie stammenden Brillen haben in den letzten Jahren zwar an Popularität gewonnen; auch in der Medizin. Dort werden sie zu therapeutischen Zwecken eingesetzt, zum Beispiel bei der Behandlung von Phobien wie Höhenangst. Doch der grosse Durchbruch der Geräte blieb bislang aus: Noch sind sie zu teuer, zu klobig.
360°-Filme können auch ohne Brille am PC oder am Handy angeschaut werden. Aber dann geht viel von der Immersion verloren. «Die beste Art, einen 360°-Film zu geniessen, ist mit einer VR-Brille», findet auch Robert Müller, «das fühlt sich am natürlichsten an.» Er vermutet, dass – solange sich die VR-Technologie nicht durchgesetzt hat – auch das Medium 360°- Film vorab als Attraktion für spezielle VRBars, -Ausstellungen oder -Kinos dienen wird. Der gute alte «flatty», wie Christophe Merkle den klassischen Film liebevoll nennt, dürfte uns also noch länger erhalten bleiben.
Hier geht es zum Interview mit Patrizia Banzer, Leiterin des Forschungsprojekts zum 360°-Film beim Schweizer Fernsehen SRF. Mehr zudem unter: www.srf.ch/360