Herr Nilles, haben Sie Angst vor der Zukunft?
Ich blicke mit grosser Zuversicht in die Zukunft. Innovationskraft, die für ein Unternehmen wie Schindler essenziell ist, erfordert Mut und Weitsicht. Angst ist hier ein schlechter Ratgeber.
Aber die Zukunft der Arbeitswelt, Stichwort «Industrie 4.0», flösst vielen Menschen Angst ein.
Ja, weil sie den hohen Grad der Automatisierung mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen gleichsetzen. Die beiden MIT-Professoren Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson sehen in ihrem Buch «The Second Machine Age» das zweite Maschinenzeitalter positiv mit vielfältigen Chancen, fordern aber auch Massnahmen, um die Arbeitswelt darauf vorzubereiten.
Mit welchen neuen Techniken und Fähigkeiten rechnen Sie?
Industrie 4.0 ist im Kern die Vernetzung von physischer und digitaler Welt. Der Begriff «Industrie 4.0» wird leider oft synonym mit den Konzepten der «Intelligenten Fabrik» verwendet. Der im Angelsächsischen übliche Begriff des «Industrial Internet» zielt weiter auf eine sogenannte vierte industrielle Revolution: Die digitalen Technologien breiten sich rasant aus, die Vernetzung zieht ein in die physische Welt, sodass Maschinen oder Consumer Products intelligent werden. Dies ermöglicht völlig neue Geschäftsmodelle und Systeme.
Welche Aufgaben werden mit dieser Revolution auf die Firmen zukommen?
Die Unternehmen, die sich erfolgreich in dieser Transformation befinden, haben Produkt, Technologie, Prozess und Mensch eng verzahnt und damit nachhaltiges Wachstum generiert. Sie begreifen die Transformation nicht nur als Optimierung des Bestehenden, sondern verändern das Modell und bauen neue Geschäftsfelder auf.
Schindler gilt als Vorreiter dieser Digitalisierung, der firmeneigene «Digitale Werkzeugkoffer» ist aus einer Zusammenarbeit mit Apple entstanden. Wie funktioniert diese App?
Der Digitale Werkzeugkoffer unterstützt alle relevanten Informationen und Prozesse, die ein Servicetechniker im Feld benötigt: technische Daten und die Historie der Anlage, Ersatzteilmanagement, Kundeninformationen und eine Jobliste, die die Servicearbeiten für den Tag beschreibt. Über einen intelligenten, digitalen Algorithmus berechnet die App die Route dahingehend, dass die Aufträge so effizient wie möglich abgewickelt werden können, und sie berücksichtigt dabei auch plötzlich auftretende Störungen. Diese Lösung wurde zusammen mit Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts entwickelt, die grosse Erfahrung auf dem Gebiet haben.
Welche Vorteile hat das konkret?
Mit der digitalen Plattform verbinden wir alle Teilnehmer und sorgen für deutlich mehr Transparenz und Effizienz. Technische Daten und Fehleranalysen werden in Echtzeit ausgewertet und unseren Callcenter- und Vertriebsmitarbeitern sowie unseren Servicetechnikern zur Verfügung gestellt. Mit dieser Lösung ist die Digitalisierung im Tagesgeschäft von Schindler angekommen.
Sind auch Ihre Kunden in das System einbezogen?
Sie haben über ein Portal oder über eine App Zugang zu diesen Informationen und erfahren beispielsweise, wenn ein Aufzug ausgefallen ist und wann die Instandsetzung durch einen Schindler-Servicetechniker vor Ort erfolgt. Hochintelligente Algorithmen und Big-Data-Analysen helfen uns, Serviceaufträge und Ersatzteilbestellung proaktiv zu handhaben und erforderliche Wartungsarbeiten bereits prädiktiv vorauszusagen.
15 Jahre sind in der IT eine Ewigkeit.
Wie integrieren Sie ausserdem die neuen Technologien in die Firma?
Wir setzen seit vielen Jahren digitale Technologien zur Optimierung und Erweiterung unseres Geschäfts ein. Aktuell führen wir zusammen mit unserem HR-Bereich eine digitale Lösung zur besseren Zusammenarbeit und zum Teilen von Wissen ein, sogenannte kollaborative Arbeitsformen. In einem Konzern wie Schindler, in dem man über viele Funktionsbereiche und Länder hinweg an Kundenprojekten arbeitet, sind solche Lösungen essenziell.
Was wird sich wohl in 15 Jahren bei Schindler geändert haben?
15 Jahre sind in der IT eine Ewigkeit.
Gut, dann in fünf Jahren?
Wir haben bei Schindler bereits einen grossen Schritt gemacht, aber die digitale Transformation ist nicht abgeschlossen. Wir haben viele neue – teils erhaltende, teils disruptive – Innovationen im Kopf; einige werden bereits mit konkreten Initiativen umgesetzt.
Sie sehen also keine Gefahren in der «vierten industriellen Revolution»?
Die grösste Gefahr ist sicherlich, sie zu verschlafen. Denken Sie an Unternehmen wie Blackberry oder Quelle oder Neckermann, denen der Mut zu disruptiver Innovation gefehlt hat. Und Kodak sah zwar die Entwicklung der Digitalfotografie voraus, brachte ihre Innovation aber nicht an den Markt, weil die Firma ein Quasi-Monopol bei der Filmherstellung und Angst vor Kannibalisierung des Kerngeschäfts hatte. Dann musste sie zusehen, wie neue Unternehmen den Markt überrollten.
Wie reagieren Ihre Angestellten? Müssen Sie Überzeugungsarbeit leisten?
Nehmen Sie unsere Feldmitarbeiter: Wir haben uns sehr gut im Hinblick auf Changemanagement und Training vorbereitet. Im Nachhinein waren wir positiv überrascht, wie schnell sie den Wandel vollzogen haben. Dabei hat uns sicherlich unterstützt, dass viele Mitarbeiter bereits an den Umgang mit iPhones und iPads gewöhnt waren. Das hat sehr geholfen, sie vom ersten Tag an für das Werkzeug zu begeistern.
Nur wenn das Denken und Handeln über funktionale Silos und Abteilungen hinausgeht, gelingt die digitale Transformation.
Welche neuen Fähigkeiten brauchen die Ingenieure, die Arbeitskräfte in Zukunft?
Am wichtigsten ist die Kompetenz, interdisziplinär zusammenarbeiten zu können, und die Bereitschaft, sein Wissen zu teilen. Nur wenn das Denken und Handeln über funktionale Silos und Abteilungen hinausgeht, gelingt die digitale Transformation.
Und sonst?
Man muss bereit sein, sich kontinuierlich und proaktiv weiterzubilden. Die Halbwertszeit des eigenen Wissens sinkt kontinuierlich. Ausserdem gilt: Software, Software, Software. Wer die nicht beherrscht, hat schlechte Chancen.
Welche Fähigkeiten müssen Sie selbst mitbringen für Ihren Job?
Leidenschaft, Neugier, Mut und die Fähigkeit, begeistern zu können. Als CIO müssen Sie zudem in beiden Welten zu Hause sein: Sie müssen das bestehende Geschäft mit digitalen Technologien optimal unterstützen und weiterentwickeln, aber auch an neuen und disruptiven Themen arbeiten.
Wie muss eine Bildungsinstitution mit Aus- und Weiterbildung und mit Forschung auf die Industrie 4.0 reagieren?
Für die Entwicklung und den Betrieb von Industrie-4.0-Lösungen ist Know-how aus verschiedenen Domänen notwendig: Ingenieurswissenschaften, Softwareentwicklung, Design – um nur einige zu nennen. Die wichtigste Fähigkeit, in einer globalen Welt in interdisziplinären Teams zu arbeiten, über verschiedene Kulturkreise hinweg, habe ich bereits erwähnt.
Sie plädieren für eine interdisziplinäre Ausbildung?
Hochschulen könnten mit einer Art «Studium generale», das interdisziplinäres Basiswissen beinhaltet und interdisziplinäre Zusammenarbeit fördert, sehr gut auf diese Herausforderungen vorbereiten. Last but not least setzen die heutigen agilen Entwicklungsmethoden stark auf Prototyping; daher ist eine enge Kooperation der Hochschulen mit Praxispartnern aus der Industrie unabdingbar.
E-Mail-Interview: Valeria Heintges