Die grüne Wandfarbe, der Boden aus Stein und Holz, die Pflanzen, die den Feuchtigkeits- und Sauerstoffhaushalt regulieren: Die gesamte Atmosphäre erinnert an eine Orangerie. Zudem gibt es hier keine konventionelle Heizung, das Raumklima wird lediglich durch die Raumstruktur, die Fassadenkonstruktion und durch den Einsatz von sogenanntem Phase-Change- Material gewährleistet, das Wärme speichert und sie verzögert abgibt. Eigentlich präsentiert sich der Raum abgeschlossen, die vom Gesetz definierte Baulinie würde keine Balkone an der Fassade erlauben.
Doch Natalie Plagaro Cowee, Architektin an der Hochschule Luzern, hat sich eine besondere Strategie ausgedacht, damit sich Sitzungen auf dieser ersten Etage trotzdem draussen abhalten lassen. «Mit dem Drehbalkon können sich zwei Personen an die frische Luft schwingen», erklärt sie. Er gibt dem Raum seinen Namen: «In-Out». Der Raum ist Bestandteil einer neuen Arbeitsumgebung namens Meet2Create, die ein interdisziplinäres Forschungsteam der Hochschule Luzern unter der Leitung des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) entwickelt hat.
Dem dreiteiligen Konzept liegen die Bedürfnisse von mobil-flexiblen Mitarbeitenden zu Grunde, die zu Hause konzentriert arbeiten, unterwegs zum Kundenbesuch ihre E-Mails beantworten und sich zu Arbeitssitzungen im Café treffen. Für sie planten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Büro, das in der bewegten Arbeitswelt die Funktion eines Fixpunktes übernehmen soll. Es wird zum Ort, an dem «man sich trifft», oder – um es mit dem Motto des Forschungsteams zusammenzufassen – es entwickelt sich «from Workplace to Taskspace». Das Büro wird als Forschungslabor für Arbeitswelten der Zukunft auf einer Fläche von rund 280 Quadratmetern ins NEST-Gebäude auf dem Gelände der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa in Dübendorf eingebaut. Nutzen werden es Mitarbeitende der Empa, der Hochschule Luzern und Wirtschaftspartner.
Mehr Raum für Zusammenarbeit
In 16 Prozent der Unternehmen sind laut einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz flexible Arbeitsmodelle ein Thema, eine grosse Mehrheit – 90 Prozent – beschäftigt sich zumindest damit. «Das Büro muss sich somit verändern», sagt Sibylla Amstutz, Projektleiterin von Meet2Create der Hochschule Luzern. Ihr Team wolle unter anderem Antwort auf die Frage geben, wie Bürogebäude auf veränderte Arbeitsweisen und neue Anforderungen räumlich und technisch reagieren können.
Meet2Create basiert auf der These, dass in der zunehmend mobil-flexiblen Arbeitswelt der Anteil an konzentrierter Einzelarbeit in den Büros abnehmen wird, die Zusammenarbeit im Team jedoch zunimmt. Im Konzept ist der Anteil an Meeting- und Workshopräumen im Verhältnis zu den Einzelarbeitsplätzen deshalb ungleich höher als in den meisten konventionellen Büros. Es verzichtet denn auch auf fix eingerichtete Einzelplätze. Vielmehr bietet es Teams und Einzelpersonen unterschiedliche Möglichkeiten zum Arbeiten; dazu gehören vor allem Räume für Zusammenarbeit, aber auch Rückzugsorte für individuelles Arbeiten. Dabei legt das Forschungsteam Wert darauf, dass die Umgebung viele Handlungsspielräume bietet und das innovative Denken und die kreative Zusammenarbeit fördert.
Konzipiert für moderne Nomaden
Der grüne Raum «In-Out» ist für Brainstormings, Diskussionen oder Workshops da. Ebenfalls hauptsächlich für Zusammenarbeit, Austausch und Begegnung konzipiert ist «Hybrid». Er geht in der Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten aber etwas weiter als «In-Out». Weiss gestrichen und mit einer flexiblen Möblierung ausgestattet, erinnert er an eine Bühne, auf der je nach Stück unterschiedliche Kulissen zum Zuge kommen. Hier können Firmen Workshops durchführen, aber auch Vorträge oder Filmvorführungen organisieren.
Bei der Einrichtung von «Hybrid» hat das Forschungsteam mit Vitra gearbeitet, einem der Wirtschaftspartner, der das Projekt Meet2Create unterstützt und auch selbst forscht. «Für uns geht es vor allem darum, Neues auszuprobieren», sagt Jürgen Dürrbaum, verantwortlich für das internationale Projektgeschäft von Vitra. Damit der Raum den unterschiedlichsten Bedürfnissen gerecht wird, verfolgte das Vitra-Team zusammen mit der Hochschule Luzern das Prinzip der Hyperflexibilität: Die Tische können in Sofas umgewandelt werden, lassen sich verschieben und verstauen. Als spezielle Herausforderung dabei erweist sich laut Dürrbaum jeweils die Stromzufuhr. In «Hybrid» überzieht nun ein Schienennetz mit Mehrfachsteckern die Decke. Flexible oder zerlegbare Möbelsysteme sind für Dürrbaum ein Kennzeichen von mobilen Gesellschaften wie den Nomaden, die mit dem knappen Platz in ihren Zelten haushalten müssen. Bei der Anwendung dieses Prinzips auf Büros für Arbeitsnomaden stellt Dürrbaum das Gleiche fest wie das Forschungsteam des CCTP: «Es gibt einen zunehmenden Bedarf nach Räumen für Zusammenarbeit, Tische müssen zusammengerückt werden können. Räume müssen hoch flexibel werden.»
Einflussnahme im Kokon
Der dritte Raum wird «Cocoon» genannt und verfügt sowohl über Teamarbeitsplätze als auch über Einzelarbeitsplätze. Die beiden Bereiche sind getrennt durch einen Erker, der mit einer Tageslichtdecke ausgestattet ist. Mit der implementierten LEDTechnologie kann der Tageslichteinfall verstärkt werden, sie lässt sich entlang des zirkadianischen Rhythmus, des Schlafwach- Rhythmus, steuern. Weiter verfügt der Erker über beschreibbare Wände. Hier können die Mitarbeitenden sich für Ad-hoc-Meetings in kleineren Gruppen treffen. In «Cocoon» wird laut Sibylla Amstutz mit der Einrichtung der Einzelarbeitsplätze das grösste Mass an Rückzug und Privatsphäre realisiert. So lassen sich dort die Heizung, Kühlung, Lüftung und das Licht individuell einstellen.
Spezifisches Energiemanagement
In Meet2Create streben die Wissenschaftler das optimale Gleichgewicht zwischen Mensch, Raum und Technik an, mit dem Ziel, den Energie- und Ressourcenverbrauch auf ein Minimum zu reduzieren. Wenn immer möglich wird – wie im Raum «In-Out» – das Raumklima über die Gebäudestruktur, die Fassadenkonstruktion und den Einsatz von Materialien gesteuert. «In- Out», «Hybrid» und «Cocoon» verfügen über ein jeweils anderes Energiemanagement und eigene Lösungen für das Raumklima. Während in «In-Out» ein passives Konzept mit Materialien realisiert wird, dominieren in «Cocoon» und «Hybrid» Hightech. In «Cocoon» kann der Nutzer das Klima beeinflussen, in «Hybrid» übernimmt der Raum die Regelung und reagiert selbstständig auf Lichteinfall, Aussentemperatur und darauf, wie viele Menschen im Raum sind.
Arbeiten als Erlebnis
Momentan laufen die Bauarbeiten in Dübendorf auf Hochtouren. Im kommenden Mai wird NEST eröffnet. Ab dann steht auch die Unit Meet- 2Create den Benutzerinnen und Benutzern zur Verfügung und wird auf Herz und Nieren geprüft. Reto Largo, Projektleiter von NEST, wird einer der Hauptnutzenden der neuen Bürowelt sein und ist gespannt, wie die Arbeitsumgebung die Produktivität der Mitarbeitenden steigern kann. «Zudem freue ich mich darauf, dass das Arbeiten in diesen Räumen zu einem echten Erlebnis wird, Spass macht und sich damit eine längerfristige Performance der Arbeitsleistung halten lässt.»
Autorin: Sarah Nigg
Lesen Sie auch das Interview mit Sibylla Amstutz, Projektleiterin Meet2Create.
Die Abkürzung NEST steht für «Next Evolution in Sustainable Building Technologies». NEST ist ein modulares Gebäude mit festem Kern und austauschbaren Wohn- und Arbeitsmodulen. Es entsteht auf dem Gelände der Empa in Dübendorf und geht im Mai 2016 in Betrieb. Ziel von NEST ist es, Innovationen im Bau- und Energiebereich schneller als bisher auf den Markt zu bringen. Dazu bietet NEST eine reale Testumgebung, in der neue Technologien, Systeme und Produkte geprüft und weiterentwickelt werden. Hier arbeiten und forschen Teams aus Universitäten und Fachhochschulen zusammen mit Unternehmen und Vertretern der öffentlichen Hand. Die einzelnen Forschungsunits werden vom Backbone aus mit Wasser, Wärme, Elektrizität und Internetanschluss versorgt. Meet2Create, die Unit der Hochschule Luzern zur Erforschung der Arbeitswelten, soll sieben Jahre Bestandteil von NEST sein.
Weitere Informationen: www.empa.ch/web/nest (hier kann auch der Baufortschritt im Zeitraffer beobachtet werden)