Beat Hauenstein: Shiva Stucki-Sabeti, Sie lehren und forschen unter anderem im Bereich Public und Nonprofit Management und zu Agilität und Digitalisierung. Was zeichnet agile Verwaltungen aus?
Shiva Stucki-Sabeti:
Zum einen fördern sie die Zusammenarbeit in interdisziplinären und möglichst selbstorganisierten Teams, die departementsübergreifend arbeiten und externe Anspruchsgruppen integrieren. Diese Teams erhalten viel Selbstbestimmung, Gestaltungsraum, ja sogar Entscheidungskompetenz. Kommuniziert wird auf Augenhöhe und aus einer Grundhaltung von Respekt, Offenheit und Vertrauen. Vorgesetzte delegieren Aufgaben, während die Mitarbeitenden Verantwortung übernehmen: Es entsteht ein aktives Mitdenken anstatt Dienst nach Vorschrift. Das erlaubt Verwaltungen, schnell und flexibel – eben agil – zu reagieren.
Zum anderen steht die Kundin, der Kunde stets im Zentrum und wird möglichst miteinbezogen, von der einzelnen Bürgerin über den Quartierverein und das Unternehmen bis hin zu den lokalen Medien. Der Nutzen für Kundinnen und Kunden ist stets mitzudenken, nicht nur wenn es um Aufgaben des sogenannten «Service Public» geht. Dazu bedarf es stetigen Austausches und Partizipation. Wichtig dabei: Mitarbeitende hören genau zu, fragen nach und begegnen ihrer Kundschaft auf Augenhöhe.
Und last, but not least: Agiles Arbeiten heisst auch, zu experimentieren und daraus zu lernen. Fehler sind dabei unvermeidbar und stellen wertvolle Lernmöglichkeiten dar. Wichtig sind regelmässige Feedbacks und kritische, wertschätzende Reflexion. So kann sich das System «öffentliche Verwaltung» stets verbessern.
Beat Hauenstein: Das klingt ja fast zu schön, um wahr zu sein. Oliver Kessler, Sie haben Erfahrung in der Entwicklung und Implementierung solcher Prozesse in Verwaltungen und in Nonprofit Organisationen. Funktioniert das auch tatsächlich?
Oliver Kesser:
Unsere Praxiserfahrung und die Forschung zeigen, dass Agilität auch im öffentlichen Sektor möglich ist, ohne Grundprinzipien wie Rechtskonformität, Gleichbehandlung, Sicherheit und Verlässlichkeit zu gefährden. Das Management, d.h. auch die Exekutive und teilweise die Legislative muss bereit sein, Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung an interdisziplinäre Teams abzugeben und Hierarchien abzubauen oder zumindest aufzuweichen. Zugleich müssen die Mitarbeitenden bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen und weniger auf Weisungen von oben zu warten. Und schliesslich müssen der Gemeinderat und die Bevölkerung damit einverstanden sein, dass gewohnte Strukturen und Prozesse hinterfragt und angepasst werden.
Beat Hauenstein: Wie reagieren die Mitarbeitenden oder die Kundinnen und Kunden von Gemeindeverwaltung auf solche Veränderungen?
Shiva Stucki-Sabeti:
Viele Menschen mögen keine Veränderungen und bevorzugen die Sicherheit, die ihnen der Status quo vermittelt. Lässt man sich dennoch darauf ein, Agilität zu erproben, können daraus positive Entwicklungen und auf jeden Fall wertvolle Erfahrungen resultieren. Chancen von Agilität sind mehr Engagement und Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Denn die Handlungsspielräume, welche durch die Verantwortungsübergabe an die Mitarbeitenden entstehen, motivieren und setzen Kreativität frei. Gerade jüngere Mitarbeitende suchen Jobs mit Gestaltungsspielräumen, in denen sie sich aktiver einbringen können. Somit trägt mehr Agilität auch zur Arbeitgeberattraktivität des öffentlichen Sektors bei. Der Einbezug der externen Anspruchsgruppen führt zu mehr innovativen Ideen und Dienstleistungen, die auf die Bedürfnisse der Kundinnen und Bürger abgestimmt sind.
Natürlich gibt es auch Risiken: Agilität kann Vorgesetzte und Mitarbeitende überfordern, da ist Führung gefragt.
Beat Hauenstein: sie haben auch fünf Luzerner Gemeindeverwaltungen unter die Lupe genommen, die damit beschäftigt sind, sich agiler aufzustellen. Gibt es einen “Best-Practice-Ansatz” für mehr Agilität in Gemeindeverwaltungen?
Oliver Kessler:
Wir sprechen von „Good-Practice-Beispielen“, da jede Gemeinde, jeder Kanton über eine eigene Geschichte verfügt und aufgrund der spezifischen Ausgangslage und der beteiligten Menschen eine andere Herangehensweise benötigt. Die wichtigste Voraussetzung für mehr Agilität in der öffentlichen Verwaltung ist die Überzeugung und der Veränderungswille möglichst vieler Führungspersonen in der Organisation. Als Handlungsempfehlung schlagen wir folgendes Vorgehen vor:
- Eine gründliche Analyse der Ausgangslage muss nicht unbedingt sein, kann aber Sicherheit vermitteln: Wo steht die Gemeinde heute in Bezug auf Agilität, wohin möchte sie sich entwickeln?
- Die Entwicklung und das bewusste umsetzen einer «neuen» Führungskultur auf Augenhöhe und mit weniger hierarchischer Distanz.
- Nicht die Transformation der Gesamtorganisation in Angriff nehmen, sondern mit überschaubaren Teilbereichen beginnen, erste Erfahrungen sammeln und daraus lernen.
- Cross-funktionale, möglichst selbstverantwortliche Teams bilden, also Teams aus Spezialist*innen und Generalist*innen aller benötigten Funktionen aus verschiedenen Abteilungen und Bereichen.
- Mit allen Anspruchsgruppen – auch den externen – muss ein Dialog gestaltet werden (Stichwort Partizipation).
- Regelmässige Feedback-, Coaching- und Reflexionsschlaufen etablieren und kontinuierlich daraus lernen.
Beat Hauenstein: Sie bieten auch Beratungen im Bereich Strategie-, Organisations- und Führungsentwicklung in öffentlichen Verwaltungen und Nonprofit Organisationen durch.
Shiva Stucki-Sabeti: Genau: Wir stellen unser Knowhow sehr gerne zur Verfügung.
Literatur zum Thema: Stucki-Sabeti, S., Flury, A., & Kessler, O. (2022). Agilität in der öffentlichen Verwaltung – vom Konzept in die Praxis. Swiss Yearbook of Administrative Sciences, 13(1), pp. 111–130