Die Situation in der Reha ist bekannt: Der Physiotherapeut stellt ein Trainingsprogramm zusammen, der Patient erhält die dafür notwendigen Instrumente, nur das Üben zuhause ohne Unterstützung durch Expertinnen oder Experten fällt leider schwer. Zu oft bleiben das legendäre Thera-Gummiband sowie Gewichte im Schrank liegen, um die oberen Extremitäten (das heisst Schultern, Arme, Hände) zu stärken. Dank Digitalisierung und «Internet of Things»-Systemen können nun die Erfolgsaussichten für die Reha und Physio 2.0 erheblich gesteigert werden – eine Win-Win-Situation für Betroffene, Angehörige, Therapeuten und Therapieeinrichtungen.
Mehr Akzeptanz dank Digitalisierung
«Wir haben eine niederschwellige Form von körperlichen und kognitiven Übungen kreiert, die jeder an jedem beliebigen Ort durchführen kann. Aus der Praxis wissen wir: Je einfacher das Set-up, umso grösser die Chance, dass das Training auch daheim regelmässig stattfindet», umschreibt Prof. Dr. Andrew Paice, Leiter iHomeLab der HSLU, das tele-medizinische Vorhaben. Etliche Patientinnen und Patienten vernachlässigen das Üben, wenn es sich nicht einfach in deren Alltag integrieren lässt.
VR-Brille, Router und Bio-Sensoren genügen
Der Materialaufwand, um ein online-Training dieser Art aufzusetzen, hält sich in Grenzen: Eine von der Klinik bereitgestellte VR-Brille mit Datenübertragung, ein Datengateway sowie ein Bio-Sensor am Finger genügen bereits. Das ist die Basisausrüstung für Patientinnen und Patienten, dazu kommt eine App für Angehörige. Diese haben eine wichtige Rolle beim konsequenten Üben, indem sie die Patientinnen und Patienten motivieren und bei technischen Schwierigkeiten unterstützen können – auch und gerade auf digitalem Wege.
«Maulwürfe fangen» – Gamification motiviert
Sobald der Patient zuhause die VR-Brille angelegt und gestartet hat, wird er in virtuelle Welten entführt, in denen er spielerische Übungen, sogenannte Exergames, zur Stärkung seiner oberen Extremitäten sowie zur Steigerung seiner kognitiven Fähigkeiten durchführt. Diese Exergames tragen originelle Namen wie «Whack a mole» – hier gilt es Maulwürfe zu fangen – oder «Escape from Alpatraz», wo es darum geht, aus einem virtuellen alpinen Irrgarten zu entkommen. Andere Spiele bauen auf bekannten Bildwelten wie «Memory», «Basketball» oder «Händeklatschen» auf. Die Übungen unterscheiden sich in ihren Anforderungen und können im Schwierigkeitsgrad angepasst werden. Eine Kamera, die auf der VR-Brille angebracht ist, filmt die Bewegungen der Patientenhand und blendet diese ins Spielgeschehen ein. Aufgrund von Sensorsignalen können mittels KI-Algorithmen der subjektive Stress und die Ermüdung des trainierenden Patienten abgeleitet werden. Sukzessive absolviert der Patient sein Programm nach Lust und Laune und genau dann, wann er will. Die pseudonymisierten Daten werden – für Dritte nicht dechiffrierbar – in einer gesicherten Cloud abgelegt. «Schwindeln» ist nicht möglich: Das System erkennt via biometrischen Fingerabdruck, falls eine Drittperson anstelle des Betroffenen trainiert haben sollte.
Schliessung einer Behandlungslücke
Über eine mehrfach geschützte Leitung kann sich der Therapeut bei Bedarf aus der Ferne mit dem trainierenden Patienten verbinden und so die Übungen haargenau sowie in Echtzeit auf Fähigkeiten und Bedürfnisse der Betroffenen anpassen. Ebenso kann er die Genauigkeit der Übungsausführung laufend oder im Nachgang vergleichen und ergänzende Übungen empfehlen. «Mit dieser innovativen Therapieform verändern sich auch die Aufgaben des Therapeuten, der in dieser Situation seine Rolle als Coach versteht und flexibel agieren kann. «Zudem bietet die Tele-Reha als innovatives Versorgungsmodell das Potential, die Ressourcen des Gesundheitssystems zu schonen und dank seiner zeitlichen und räumlichen Flexibilität eine bestehende Behandlungslücke zu schliessen», erklärt Dr. Sebastian Frese, Leiter Technologie und Innovation bei ZURZACH Care. Als ergänzende Therapieform liesse sich der Aufwand für Patientinnen und Patienten wie auch ihre Angehörigen deutlich senken, weil Vor-Ort-Besuche und aufwendiges Reisen reduziert werden könnten. Auch für die Kliniken und Rehabilitationszentren ist ein Mehrwert in Zeiten des Fachkräftemangels unübersehbar.
Nächstes Ziel: Transfer in den medizinischen Alltag
Insgesamt wurden in den letzten zweieinhalb Jahren rund 70 Patienten, 15 Angehörige und über 40 Fachleute in die Testreihe einbezogen. Aus der grossen Menge anonymisierter Daten und Diagramme können Expertinnen und Experten übergeordnete Muster erarbeiten. Das mittelfristige Ziel dieser Big Data-Analyse für Prävention in der Medizin wie auch in der Therapie ist klar: Mithilfe von KI sollen neue, personalisierte Behandlungs- und Trainingsansätze entwickelt werden, die eine noch bessere Wirksamkeit aufweisen. «Wir haben mit unserer Tele-Rehab-Plattform sowohl die technologischen Voraussetzungen wie auch den Tatbeweis in der klinischen Praxis erbracht. In einem nächsten Schritt gilt es nun den Transfer in den medizinischen Alltag zu schaffen – dies zusammen mit interessierten Wirtschaftspartnern. Die ins Projekt involvierten Projektpartner treiben das Unterfangen aktiv voran», erklärt Andrew Paice.
Wer ist bei «RecoveryFun» engagiert?
Das Projekt
«RecoveryFun» (Originaltitel: An integrated VR-based tele-rehabilitation
platform to support RECOVERY and maintenance of FUNctional
abilities among seniors) lief von Januar 2022 bis Juni 2024. Das
Forschungsprogramm gehört zum Themencluster «AAL – Active Assisted Living» der
Europäischen Union, das seit 2010 implementiert wurde. Am interdisziplinären
Projekt beteiligt waren nebst dem iHomeLab Praxis-Teams aus Italien (Tech4Care,
INRCA), der Schweiz (ZURZACH Care), Rumänien (Canary Technology) sowie Belgien (Unmatched,
Trainm).
Live ausprobieren: «RecoveryFun» am Abend der Wirtschaft
Am Abend der Wirtschaft am Donnerstag, 24. Oktober 2024, auf
dem Campus der Hochschule Luzern – Technik & Architektur in Horw – wird
unter anderem das Projekt «RecoveryFun» live vorgestellt. Hier mehr erfahren.