Die Stadt der vielen
Es gibt ihn immer noch! Unbeeindruckt vom abgelehnten CO2-Gesetz hat sich der Klimawandel in das Bewusstsein der Bevölkerung zurückgemeldet. Tote und traumatisierte Menschen, zerstörte Gebäude und Infrastrukturen, vernichtete Existenzgrundlagen und Schäden in Milliardenhöhe. Diesmal nicht nur in Kanada und Russland, nein, direkt bei uns und unseren Nachbarn. Gemäss aktuellen Klimaszenarien setzt sich die Erwärmung des Klimasystems weiter fort. Die Folgen sind heftigere Niederschläge, trockenere Sommer, mehr Hitzetage und schneearme Winter mit massiven Auswirkungen auf die Lebensqualität in unserem Lande. Die Wetterereignisse der letzten Monate geben Hinweise auf das neue Normal. Sind die Städte vorbereitet?
Es ist hinlänglich bekannt, dass wir unsere Städte klimafreundlich, also hitzeangepasst und wassersensibel umbauen müssen. Was aber bisher viel zu wenig diskutiert wurde, ist, dass wir zunehmend mit Klimaflüchtlingen in unseren Städten zu rechnen haben. Nach Angaben der Welthungerhilfe rechnet man bis zum Jahre 2050 mit 140 Millionen geflüchteten Menschen, die aufgrund klimatischer Verhältnisse ihr Land verlassen müssen und die Urbanisierung verstärken.
Wir sprechen von der Stadt der vielen und müssen unsere Stadtentwicklung darauf hin ausrichten. Die Thematik ist komplex und Zielkonflikte sind vorprogrammiert. Wohnraumknappheit trifft auf Klimanotstand. Einerseits benötigen wir massiv mehr günstigen Wohnraum und andererseits benötigen wir Freiflächen für die Durchlüftung und Begrünung der Stadt. Also verdichtete Strukturen zu Gunsten von grosszügigen Frei- und Grünflächen.
Alleine schon zur Wahrung des sozialen Friedens werden Aushandlungsprozesse vermehrt unseren Planungsalltag beherrschen. Basis dafür sollte ein «Big Picture» der klimagerechten und sozialen Stadt sein. Wohlwissend, dass es nicht die eine Wahrheit, die eine Lösung für diese wichtigen Fragestellungen gibt. Wie sieht die nachhaltige Stadt in Zeiten des Klimawandels aus? Wie wird Wohnraum in dieser Stadt verteilt sein? Was bedeutet dies für die Mobilität? Mit was für Szenarien für den Arbeitsmarkt rechnen wir? Diese und viele weitere Fragen lassen die Komplexität erahnen. Beantworten können wir sie nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Experten und Expertinnen und Betroffenen weit über die Ländergrenzen hinaus. Es braucht ein möglichst global umspannendes Netzwerk mit umgesetzten und reflektierten Beispielen. Das in der Forschung häufig anzutreffende Konkurrenzdenken hat hier keinen Platz.
Spannend wäre in diesem Zusammenhang auch der Blick über die Grenzen des Kontinents hinweg. Wie gehen heute bereits hitzeerprobte und einwohnerreiche Städte wie Marrakesch in Marokko mit Hitze und Verdichtung um? Was für Typologien funktionieren, welche nicht? Was können wir trotz kultureller Unterschiede adaptieren? Durch die Erwärmung und ihre Folgen wird sich der Lebensalltag in der Stadt massiv verändern. So wird die aus Spanien bekannte Siesta unser zunehmendes flexibles Arbeiten auch in andere Sektoren wie zum Beispiel die Bauindustrie oder das Handwerk ausweiten. Der öffentliche Raum wird dabei gefordert sein. Vielleicht gibt es über die ganze Stadt verteilt Schlafoasen im Grünen.
Aber unter Umständen sind all diese Überlegungen hinfällig, denn gemäss der Schweizer Stiftung Lebensraum Gebirge haben wir nur noch bis 2050 ausreichend Wasser. Immerhin. Aber was kommt danach? Wagen wir ein Gedankenmodell: Bisher gingen wir immer davon aus, dass die Geflüchteten zu uns kommen. Was aber wäre, wenn wir plötzlich aufgrund schwindender Lebensgrundlagen selbst zu Geflüchteten werden? Zeit, von der Perspektive der Zuschauenden in die der Betroffenen zu wechseln. Bekanntlich kommt ja Hochmut vor dem Fall, vielleicht sollten wir uns daran öfter erinnern. Oder wie sang bereits in den 80er-Jahren die Band Fehlfarben? «Wir sind die Türken von morgen!»