Umdenken in der Architektenschaft
Es tut sich was! In Den Haag wurde letzte Woche mit Shell erstmalig ein privater Grosskonzern von einem Gericht dazu verurteilt, seine Emissionen in den kommenden neun Jahren um 45 Prozent zu verringern. Das Besondere daran: Diesmal geht es nicht um Schadensersatz, sondern das Gericht in Den Haag verlangt von Unternehmen proaktives Handeln bei der Reduktion von Treibhausgasen. In Deutschland wiederum hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) letzten Monat entschieden, dass Klimaschutzziele der Bundesregierung nicht mit den Grundrechten vereinbar sind, weil «hinreichende Massnahmen» zur Erreichung der Emissionsreduktion bis 2030 fehlen. Der Grund dafür: Ohne konkrete Schritte würden nachfolgende Generationen massiv in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt. Ähnliche Urteile könnten bald in der Schweiz und gegen Schweizer Unternehmen gefällt werden. Der Zug mit Ziel Klimaneutralität ist losgefahren.
Aber auch ohne Gerichtsurteile gilt: Wer weniger Staat will, muss eigenverantwortlich handeln. Dies umso mehr, als die Verantwortung kommende Generationen einschliesst. Gelingt es uns nicht rechtzeitig, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken, drohen massive Einschränkungen unserer Freiheitsrechte, denn «nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens sind mit der Emission von Treibhausgasen verbunden», so das BVG in seiner Begründung. Wir müssen somit alles hinterfragen, was uns lieb und teuer geworden ist. Unsere Gewohnheiten und Weltbilder geraten ins Wanken.
Auch die Stadtentwicklung ist von klimabedingten Veränderungen nicht ausgenommen und gefordert: Hitzetote, Verkehrskollaps, Enge statt Dichte, Mangel an bezahlbarem Wohnraum oder der Verlust an Biodiversität sind nur einige Indikatoren einer falschen Entwicklung. Diese wird unser Planen und Bauen verändern und auch hierzulande zu einem Umdenken in der Architektenschaft führen. Der Bund Deutscher Architekten zum Beispiel fordert jetzt schon: Wer ein Gebäude abreisst, soll nachweisen, dass eine Weiterverwendung nicht möglich oder sinnvoll ist, ansonsten soll der Abbruch den Verlust steuerlicher Vorteile mit sich bringen. Auch der Bau soll sich also zur Kreislaufwirtschaft bekennen. Und das ist gut so, fallen hier doch über 50 Prozent des Abfalls an; in Deutschland sprechen wir von jährlich 222 Millionen Tonnen Bauschutt. Wir können davon ausgehen, dass weitere Verschärfungen von Reglementen und Verordnungen getreu dem Verursacherprinzip folgen. Das bedeutet: Jedes Bauvorhaben wird sich künftig über den Mehrwert für den Ort und die Gesellschaft legitimieren müssen. Da werden es Zonen für Einfamilienhäuser aufgrund der ökologischen Belastung schwer haben, bewilligt zu werden. Bauen mit Beton wiederum wird zum Luxus, denn das Material produziert bei der Herstellung grosse Mengen an Treibhausgasen.
Die Klimaveränderung verändert unseren Alltag und unsere Städte. Einfach wird das nicht, und es braucht Innovation, Zusammenarbeit und gesellschaftlichen Diskurs, um zu guten Lösungen zu kommen. Wenn dies aber gelingt, so ist die Bewältigung der Klimakrise letztendlich ein riesengrosses, nahezu unerschöpfliches Konjunkturprogramm, das einen Konsens über viele Bereiche der Gesellschaft erforderlich macht. Beinhaltet es doch nicht weniger als den Umbau der Stadt und die Neugestaltung ihrer Funktionen, von Versorgung über Mobilität, Wohnen, Arbeiten, Bildung, und Gesundheitsvorsorge bis hin zur Freizeitgestaltung. Die Entwicklung der Corona-Impfstoffe zeigt uns eindrucksvoll, wie wertvoll, sinnstiftend und gleichzeitig auch gewinnbringend die Zusammenarbeit von Privatwirtschaft, staatlichen Stellen und Wissenschaft sein kann und wie schnell Lösungen gefunden werden können. Davon profitieren auch die Städte, in denen unsere Kinder künftig einmal leben werden.
Innovation kann nur dort entstehen, wo sie willkommen geheissen wird. Verabschieden wir uns also von Ideologien. Setzen wir stattdessen unsere Energie in die Entwicklung von Lösungen ein. Unterschiedliche Meinungen, die auf Respekt und Wertschätzung basieren, sind dabei essenziell. Wir müssen lernen, wieder aufeinander zuzugehen und nicht nur Gebäude, sondern eine Kultur des Miteinander-Wollens aufzubauen. Schliesslich ist die Gesundung des Planeten eine Aufgabe, die uns alle angeht. Der Zug der Zeit ist nicht zu stoppen und – ganz im Sinne von Dwight D. Eisenhower – legt sich kein vernünftiger Mensch auf die Schienen der Geschichte und wartet, bis ihn der Zug der Zukunft überfährt.