Konkret gibt die Literaturrecherche von Judith Adler und Michael Mikolasek Einblick in bestehende Studien und Publikationen im englisch- und deutschsprachigen Raum der letzten zehn Jahre. Nach Aussage des Vereins Raum für Geschwister (VRG) sind die Resultate «ein Meilenstein auf dem Weg, das Kompetenzzentrum für Geschwister von schwer kranken oder behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Schweiz zu werden.» Die jetzigen Erkenntnisse sind als erster Teil einer mehrteiligen Studie zu sehen, mit der die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit im Sommer 2020 beauftragt wurde.
Heterogene Befundlage
Auffallend, aber nicht überraschend, bestätigt die Studie die heterogene Befundlage der betroffenen Personen. Einerseits wird die Situation im Verlauf des Lebens unterschiedlich wahrgenommen, andererseits beeinflussen zum Beispiel unterschiedliche Familiensituationen die Wahrnehmung. Unter anderem ist die finanzielle Situation der Familie relevant, denn finanzielle Not der Eltern oder geringer familiärer Zusammenhalt können Geschwisterkinder belasten.
Geschwister lernen zu funktionieren
Die Bedürfnisse der Geschwister können unterschätzt werden, da sie diese unterdrücken oder gehemmt sind, sie zu äussern. Daraus entsteht die sogenannte emotionale Selbstgenügsamkeit. Geschwister gewöhnen sich daran, die eigenen Bedürfnisse zurückzunehmen und trotz Belastung zu «funktionieren». Als hilfreiche Unterstützung wurden zum Beispiel Gespräche mit aussenstehenden Personen gewertet. Auch Informationen über die Erkrankung oder Behinderung des Bruders oder der Schwester wirken sich positiv auf die gesunden Geschwister aus. Eltern, die Zeit mit dem gesunden Kind verbringen, sowie die gemeinsamen Aktivitäten innerhalb der Familie haben den grössten Einfluss auf die Lebensqualität.
Eine zentrale Veränderung der Geschwister-Situation tritt gemäss Literatur dann ein, wenn Geschwister aufgrund des altersbedingten Weggangs von Eltern die Verantwortung für ihren Bruder oder ihre Schwester übernehmen.
Genaue Zahlen fehlen
Die genaue Bezifferung von Betroffenen in der Schweiz scheint unmöglich, da detaillierte Zahlen bisher nicht erhoben wurden und nur ansatzweise aus bestehenden Datengrundlagen geschätzt werden können. Rund 54'000 Kinder bis 14 Jahre sind von einer körperlichen oder geistigen Einschränkung betroffen, 10'000 davon von einer schweren. Die Statistik besagt, dass 50 Prozent der Kinder mit Geschwistern leben. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass eine nicht unbedeutende Zahl von Kindern betroffen sind. Hinzu kommen Kinder, welche schwer erkrankte Geschwister haben. Über 38'000 Kinder zwischen 10 und 14 Jahren sind «Young Carers», übernehmen also die Pflege oder Fürsorge für Familienmitglieder.
Nächster Schritt: Vulnerable Geschwister identifizieren
Abschliessend beweist die Literatur, dass Geschwister von Menschen mit Behinderung oder schwerer Erkrankung keine homogene Gruppe darstellen. Dennoch können einige wichtige Bedürfnisse festgehalten werden, welchen künftig mehr Augenmerk zugewendet werden soll. Der Verein Raum für Geschwister und die Hochschule Luzern Soziale Arbeit sind bestrebt, mit der Fortsetzung der Studie vulnerable Geschwister zu identifizieren, damit ihnen bedürfnisgerechte Angebote bereitgestellt werden können.
Die nächste Phase der Studie umfasst eine quantitative Erhebung, um die Fragen nach der Lebenssituation der Geschwister von Menschen mit Beeinträchtigung deskriptiv zu beantworten. Die Forschungsergebnisse dienen später als Grundlage für die Weiterentwicklung der Angebote und den Ausbau der Aktivitäten des Vereins Raum für Geschwister rund um die Geschwisterthematik.
Verein Raum für Geschwister (VRG) Schweiz
Der Verein Raum für Geschwister (VRG) Schweiz wurde am 31. Januar 2013 in Olten gegründet. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, das Kompetenzzentrum für die Geschwister von schwer kranken oder behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Schweiz zu sein. Basierend auf einem systemischen Ansatz will der VRG auf verschiedenen Ebenen auf die Geschwisterthematik aufmerksam machen, Verständnis schaffen und Betroffene in ihren Ressourcen stärken.
www.geschwisterkinder.ch