Interview: Mirjam Wishart-Aregger
Das Interview wurde im Spätsommer 2020 geführt und bezieht sich auf den damaligen Stand der Erkenntnisse.
Paula Krüger, Ihre Studie «Leben zu Corona-Zeiten» untersucht, wie sich die Pandemie auf das Zusammenleben auswirkt. Wie geht es den Menschen?
Paula Krüger: Die allgemeine Zufriedenheit ist während des Lockdowns und danach etwas zurückgegangen. Die Menschen hatten mehr gesundheitliche und finanzielle Sorgen und es gab zum Teil mehr innerfamiliäre Spannungen. Gleichzeitig sind Nachbarschaften zusammengerückt, der soziale Zusammenhalt ist gestiegen. Die Schweiz scheint bisher hinsichtlich der psychosozialen Auswirkungen der Pandemie mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Offen bleibt, wie es weitergeht – auch im Falle einer zweiten Welle. Viele Kinder reagieren erst zurück im Schulalltag mit Verhaltensauffälligkeiten oder körperlichen Symptomen.
Sorgen bereiten auch die immensen staatlichen «Corona-Schulden». Was bedeutet das für die Sozialwerke und die Zukunft der jungen Generation?
Alan Canonica: Die Finanzierung der Sozialwerke, insbesondere der AHV, beschäftigt uns schon lange. Die Krise verschärft die Probleme zusätzlich und wirft Fragen nach Generationengerechtigkeit auf. Wir haben eine jüngere Generation von Arbeitnehmenden, welche die entstandenen Löcher stopfen muss. Gleichzeitig hat sie in der Krise die Risikogruppen unterstützt und sich solidarisch gezeigt. Wir müssten nun eine Lastenverteilung diskutieren, bei der auch der vermögende Teil der älteren Generation den Jüngeren entgegenkommt. Solche Themen sind zwar politisch heikel, aber es braucht diese sozialpolitischen Debatten.
Wie kann gegenseitige Rücksichtnahme nachhaltig gefördert werden?
Alan Canonica: Die Solidarität vieler Menschen wird hoffentlich noch weiter anhalten. Gerade kürzlich hat mir meine Nachbarin einen Kuchen vorbeigebracht als Dank fürs Einkaufen während des Lockdowns. Die Soziale Arbeit kann dazu beitragen, die gegenseitige Unterstützung im sozialen Umfeld aufrechtzuerhalten und weiter zu fördern. Ich erhoffe mir, dass solche Angebote künftig mehr beachtet und finanziert werden.
Paula Krüger: Die Krise hat gezeigt, wie wichtig die Soziale Arbeit ist. Insbesondere die Quartierarbeit und die Soziokulturelle Animation können helfen zu verhindern, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt und sich etwa die Befürchtung vieler älterer Menschen bewahrheitet, dass das Bild von Älteren und dem Alter langfristig Schaden nimmt.
Alan Canonica: Auch die soziale Abschottung im stationären Bereich, beispielsweise von Menschen mit Beeinträchtigung, ist ein heikles Thema. Wo endet die Selbstbestimmung der Betroffenen? Hier kann die Soziale Arbeit wesentlich dazu beitragen, dass die professionellen Fragen zu Selbst- und Fremdbestimmung auf die politische Agenda kommen.
Die Corona-Krise verändert auch die Arbeit im Kindesschutz: Wie sind Abklärungen in Zeiten des Lockdowns und des Social Distancing überhaupt möglich?
Paula Krüger: Für die Fachpersonen im Kindesschutz sind Abklärungen eine herausfordernde Tätigkeit. Digital und ohne den persönlichen Kontakt zu Kindern und Familien war es noch schwieriger, die Abklärungen durchzuführen. Zudem fielen während des Lockdowns wichtige Partnerinnen und Partner weg wie Jugendarbeiterinnen, Sporttrainer oder Lehrkräfte. Oft sind sie es, die psychische oder soziale Probleme von Kindern erkennen und melden. Dies erklärt vermutlich auch, warum Behörden berichten, dass während des Lockdowns weniger Meldungen eingegangen sind. Mit der Wiederaufnahme des Schulbetriebs ist zumindest die Schule als Bildungs- und Schutzraum wieder präsent. Mit welchen Vorkehrungen auch die Sozialbehörden wieder vollumfänglich arbeiten können, wird sich zeigen.
Der Bund hat schnell und in ungeahnter Höhe Hilfsmassnahmen gewährt. Braucht es eine Krise, um sozialpolitische Verbesserungen zu bewirken?
Alan Canonica: Nein, nicht zwingend. In der Vergangenheit brachten sowohl Krisen als auch Phasen der Hochkonjunktur sozialpolitische Veränderungen. Der Unterschied: In «guten Zeiten» fallen soziale Neuerungen eher auf fruchtbaren Boden, brauchen aber eher länger; in der Krise werden Entscheidungen schneller gefällt. Zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung: Eingeführt auf freiwilliger Basis wurde sie erst mit der Wirtschaftskrise 1977 zum Obligatorium. Die heutigen Massnahmen sind eher kurzfristig angelegt. Ob sich daraus langfristige Veränderungen des Sozialsystems ergeben, bleibt abzuwarten.
Die Maskenpflicht führt auch immer wieder zu Diskussionen: Warum fällt es manchen so schwer, freiwillig Eigenverantwortung zu übernehmen?
Paula Krüger: Aus psychologischer Sicht gibt es verschiedene mögliche Erklärungen: Zum einen wirkten die Schutzmassnahmen in der Schweiz relativ schnell, sodass einige Menschen vermutlich meinten, Covid-19 sei gar nicht so gefährlich. Auch die öffentliche Kommunikation war widersprüchlich: Erst wurde nicht empfohlen, eine Maske zu tragen und dann doch. Zudem sind wir solche Vorschriften nicht gewohnt und letztlich werden einige Menschen widerständig, wenn sie ihre Freiheiten beschnitten sehen.
Alan Canonica: Man wähnte sich in falscher Sicherheit, da bei vergangenen Ausbrüchen wie Sars oder der Schweinegrippe die schlimmsten Befürchtungen nicht eingetroffen sind. Dabei forderte die Pandemie der Spanischen Grippe vor 100 Jahren rund 50 Millionen Todesopfer weltweit – also deutlich mehr als der Erste Weltkrieg! In der Schweiz starben rund 25’000 Menschen. Dieser grosse Einschnitt ist vielen Leuten nicht präsent. Es ist zu wünschen, dass wir künftig aus solchen Krisen lernen.
Welche Auswirkungen hat die Krise auf Sie als junge Dozierende?
Paula Krüger: Mir wurde klar, dass ich in meinem Job als Hochschulprofessorin in einer privilegierten Situation bin: Homeoffice war dank Notbetreuung problemlos möglich und Sorgen um einen Jobverlust musste ich mir keine machen. Der persönliche Kontakt zu den Studierenden hat mir aber gefehlt. Gerade in der Sozialen Arbeit arbeiten wir viel mit Übungen und Themen werden intensiv untereinander diskutiert. Online-Unterricht sehe ich als gute Ergänzung zum Präsenzunterricht, aber nicht als Ersatz.
Alan Canonica: Auch ich habe den Unterricht vor Ort mit den Studierenden vermisst. Andererseits haben mir die neuen Umstände viele Pendlerstunden erspart. Vielleicht erkennt die Wirtschaft, dass es mit etwas weniger Präsenzzeit vor Ort auch geht. Das würde den Berufsverkehr entlasten und wäre auch ökologisch sinnvoll. Chancen erhoffe ich mir auch in Bezug auf systemrelevante Berufe: Verkäuferinnen und Verkäufer, Pflegekräfte, Kita-Personal – die Krise hat deutlich gemacht, dass unsere Gesellschaft ohne sie nicht funktioniert. Wir müssen endlich in bessere Arbeitsbedingungen für diese Menschen investieren. Ich hoffe, dass hier ein Umdenken stattfindet. Und dem Applaus politische Taten folgen.
Paula Krüger ist Psychologin, promovierte Linguistin und Professorin am Institut Sozialarbeit und Recht. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Kindes- und Erwachsenenschutz. Insbesondere beschäftigt sie sich mit Gewalt in der Familie und der Verhinderung sekundärer Viktimisierung.
Alan Canonica befasst sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention mit Arbeitsmarktintegration und dem Wohlfahrtsstaat. Der promovierte Historiker kombiniert dazu sozialwissenschaftliche und historische Methoden.