Aufzeichnung: Mirjam Wishart-Aregger
«‹Als Berufsbeiständin arbeiten – das will ich auch›, fasste ich vor sechs Jahren den Entschluss. Ich hatte als Sozialpädagogin/Agogin für Menschen mit Beeinträchtigung mit Beiständinnen und Beiständen zu tun und war fasziniert von dieser Arbeit. Um mir das notwendige Fachwissen zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht anzueignen, meldete ich mich für das Bachelor-Studium in Sozialer Arbeit an der Hochschule Luzern an. Heute, mit dem Bachelor-Diplom in der Tasche, bin ich selbst als Berufsbeiständin der Stadt Rheinfelden tätig und betreue Mandate für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Und habe damit meinen persönlichen Traumjob gefunden.
Für die Anmeldung zum Studium brauchte ich eine grosse Portion Mut, denn meine Sehkraft ist auf dem einen Auge fast vollständig und auf dem anderen stark eingeschränkt. Die Möglichkeit an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit in Teilzeit zu studieren, kam mir dabei sehr entgegen. Ich konnte mir während
neun Semestern etwas mehr Zeit nehmen und nebenbei als Punktschrift-Lehrerin arbeiten. Überzeugt hat mich zudem, dass man in Luzern mit frei wählbaren
Modulen eigene Schwerpunkte in der Sozialarbeit setzen kann. In meinem Fall waren das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht und Methodenmodule. Dafür nahm ich den weiten Anfahrtsweg von Magden (AG) in die Zentralschweiz gerne in Kauf. Das erlernte Fachwissen, etwa zum Sozialversicherungsrecht oder zu Methoden der Gesprächsführung, sind in meinem Beruf täglich gefragt. Auch das obligatorische Praktikum während des Studiums wirkt bis heute nach: Bei der Fachstelle Opferhilfe Thurgau habe ich gelernt, auch mit schwierigen Themen umzugehen und mich, wenn nötig, abzugrenzen.
Als Beiständin habe ich heute mit Menschen in verschiedenen Lebenslagen zu tun. Die grosse Vielfalt an Lebenssituationen und Aufgaben gefällt mir sehr. Ich bin zudem viel unterwegs: treffe die Klientinnen und Klienten zu Hause, besuche eine Institution oder organisiere einen ‹runden Tisch› mit allen Beteiligten.
Bei der Arbeit mit Menschen kommt selten so etwas wie ‹Routine› auf. Wenn ich im Büro bin, erstelle ich Budgets und Handlungspläne, kläre Versicherungsfragen, verfasse Rechenschaftsberichte und vieles mehr.
Wie das alles mit einer Seheinschränkung geht? Dank ein paar Hilfsmitteln und Strategien erstaunlich einfach: Ich verwende ein Vergrösserungsprogramm auf dem Computer, ein Lesegerät, das mir Texte vorliest und vergrössert und ein Monokular, um in die Weite zu schauen. Für den Arbeitsweg nehme ich statt
dem Auto das Postauto oder gehe zu Fuss. Meine Einschränkung bringt zudem positive Effekte mit sich: Viele meiner Klientinnen und Klienten fühlen sich verstanden, weil ich offensichtlich weiss, was es bedeutet, Herausforderungen des Alltags zu meistern. Sie nehmen meine Meinung sehr ernst. Es ist für einige von ihnen, gerade jene mit einer Beeinträchtigung, motivierend zu sehen, dass ich ganz ‹normal› arbeite. In den Beratungsgesprächen lese ich viel Zusatzinformationen aus den Stimmen ab und habe ein ausgeprägtes Gespür für die Gemütszustände meiner Mandantinnen und Mandanten. Ich bin sozusagen mit allen Sinnen engagiert.
Mein trainiertes Gehör war auch für das Studium an der Hochschule Luzern entscheidend. In den Vorlesungen hörte ich höchstkonzentriert zu und konnte
mir so das grundlegende Fachwissen aneignen. Präsentationsfolien liess ich mir vorgängig zuschicken, um sie in Ruhe zu studieren. Zudem konnte ich immer
auf die Unterstützung der Mitstudentinnen und -studenten und der Dozierenden zählen. Mit den Verantwortlichen habe ich bereits im Aufnahmeverfahren
abgeklärt, was es für das Studium braucht, wo Hindernisse bestehen und wie sich das lösen lässt. Etwa eine Multiple-Choice-Prüfung, die ich mündlich statt
schriftlich absolvieren konnte. Aber eigentlich war ich eine Studentin wie jede andere und wurde auch so behandelt.
Mein Rat somit an alle Personen mit einer Einschränkung, die mit einer Aus- oder Weiterbildung liebäugeln: Getraut euch! Wenn ihr klar sagt, was ihr an Unterstützung braucht – und das wisst ihr selbst am besten – dann funktioniert es. Gleichzeitig wünschte ich mir etwas mehr Mut von den Arbeitgeberinnen
und Arbeitgebern, Bewerberinnen und Bewerber mit einer Beeinträchtigung einzustellen. Anpassungen am Arbeitsplatz sind oftmals ohne grossen
Aufwand und ohne hohe Kosten möglich. Und das gute Gefühl für Menschen mit einer Einschränkung, eine Chance zu erhalten und etwas zu bewirken, ist
unbezahlbar.»