Interview: Janet Stojan
René Stalder, zuallererst: Bei der Recherche zum Thema stösst man auf zwei Begriffe: Menschen mit Behinderung und Menschen mit Beeinträchtigung. Welcher von beiden ist richtig?
Es gibt keinen «korrekten» Begriff. Im Fachdiskurs wird «Behinderung» in Schädigung (impairment),funktionale Beeinträchtigung (disability) und den daraus entstehenden Nachteilen (handicap) unterteilt. Umgangssprachlich wurde der Begriff in den letzten Jahren durch «Beeinträchtigung» abgelöst. Der Begriff «Behinderung» ist in der Bevölkerung und auch in der Behördensprache aber nach wie vor stärker verbreitet.
Welche medizinischen Formen der Beeinträchtigung gibt es?
In den letzten Jahren ist man von einer rein medizinischen, nur auf die Schädigung bezogenen Betrachtungsweise von Behinderung abgekommen. Gemäss der oben erwähnten Fachdiskussion bilden körperliche, psychische oder geistige Formen der Beeinträchtigung nach wie vor ein wichtiges Unterscheidungskriterium, beispielsweise Blindheit, Gehörlosigkeit oder Lernstörungen. Entscheidend sind jedoch mit der Schädigung verbundene Konsequenzen, die beispielsweise eine Einschränkung an Aktivitäts- oder Teilhabemöglichkeiten zur Folge haben. Das heisst, neben den medizinischen Faktoren müssen unbedingt auch soziale Aspekte sowie einstellungs- und umweltbedingte Barrieren berücksichtigt werden.
Was bedeutet das konkret?
Dies bedeutet, dass in Zukunft nicht nur die Form der Beeinträchtigung und die Unterstützungsangebote im Zentrum stehen, sondern auch weiterführende Fragen: Wie können Menschen mit Behinderung voll und wirksam am gesellschaftlichen Leben teilhaben? Wie können sie möglichst selbstbestimmt und würdevoll leben? Wie können Chancengleichheit und Zugänglichkeit in allen Lebensbereichen ermöglicht werden?
Was muss ein politisches Rahmenkonzept aus Ihrer Sicht leisten, um diesen Anforderungen gerecht zu werden?
Ich muss vorbemerken, dass wir uns beim Rahmenkonzept der ZSODK zur Behindertenpolitik auf die Aspekte Wohnen und Arbeiten beschränken mussten. Mit dem Rahmenkonzept soll den Kantonen eine Orientierung gegeben werden. Die Politik zeigt die Richtung auf und die Kantone arbeiten entsprechend der Rahmengebung neue Gesetze aus, die etwa die Finanzierung regeln und ihre Zusammenarbeit koordinieren. Das Konzept muss die Voraussetzungen und Grundlagen für eine zukunftsorientierte Behindertenpolitik aufnehmen: Wahlfreiheit, bedarfsorientierte Unterstützung, Flexibilität und Durchlässigkeit.
Was bedeutet bedarfsorientierte Wahlfreiheit in einem durchlässigen System?
Dass Menschen mit Beeinträchtigung aus einem differenzierten Wohn- und Leistungsangebot aussuchen können, das gleichzeitig den behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf deckt. Sie können sich innerhalb eines Rahmens bewegen und entwickeln. Ein starres System würde eine Person mit Beeinträchtigung in einer Behindertenwerkstatt stehen lassen. Fall erledigt. Ein durchlässiges System macht es möglich, dass sich diese Menschen entsprechend ihrer Fähigkeiten beruflich weiterentwickeln können, sogar in ein ganz normales Unternehmen übertreten dürfen. Oder, dass jemand mit dem Freund oder der Partnerin in eine eigene Wohnung ziehen kann. Veränderungen und Entwicklung müssen möglich sein.
Wo liegen weitere inhaltliche Schwerpunkte in einem Rahmenkonzept für Behindertenpolitik?
In den letzten zehn Jahren ist im Behindertenwesen sozialpolitisch sehr viel passiert. Im Jahr 2014 ratifizierte die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention. Sie zielt darauf ab, die Rechte der Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Es geht dabei um das volle und gleichberechtigte In-den-Genuss-Kommen ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten, um die Achtung ihrer Würde, um Nicht-Diskriminierung und um die aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Das war ein grosser und wichtiger Schritt. In der Überarbeitung des Rahmenkonzepts haben wir uns an diesen neuen Grundlagen orientiert.
An welchen Stellen haben Sie Veränderungspotenzial im bestehenden Rahmenkonzept gesehen?
Das bestehende Rahmenkonzept aus dem Jahr 2008 enthält bereits viele wichtige Punkte. Unsere Aufgabe war es, dieses Konzept mit der Behindertenrechtskonvention kompatibel zu machen. Es wurden sprachliche und inhaltliche Anpassungen bei den Themen Menschenwürde, Teilhabe, Chancengerechtigkeit und Zugänglichkeit als zentrale Grundsätze der Behindertenpolitik vorgenommen. Ein wesentlicher Punkt dabei ist: weg von der Fürsorge hin zu einem bedarfsorientierten, selbstbestimmten Leben.
Wie kann Bedarfsorientierung umgesetzt werden?
Bedarfsorientierung heisst, dass der Mensch im Zentrum steht. Dazu muss zuerst erfasst werden, was er benötigt und was er möchte. In einem zweiten Schritt muss überprüft werden, ob das entsprechende Angebot vorhanden ist und wer die Dienstleistung erbringen kann. Dadurch entsteht eine neue Ausgangslage für die bestehenden Institutionen. Dies ermöglicht ihnen, ihr Angebot zu diversifizieren und weiterzuentwickeln. Allenfalls treten in Zukunft auch neue Player auf den Markt.
Gibt es diese neuen Player schon?
Ja, vereinzelt gibt es Pionierinnen und Pioniere. Das Projekt Luniq (Selbstbestimmtes Wohnen und Leben im Quartier) in Luzern, das Menschen mit Beeinträchtigung auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben berät und begleitet, zählt dazu. Oder die Stiftung Contenti, die im vergangenen Jahr in einer Genossenschaftsüberbauung in Luzern Wohnungen bezogen hat und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern dadurch ein inklusives Leben mitten in der Stadt ermöglicht. Nach meiner Einschätzung wird es aber noch mehrere Jahre dauern, bis sich solche Projekte etabliert und sich bestehende Angebote diversifiziert haben.
Ist es für Institutionen auch eine Frage des Geldes?
Tendenziell sollte es zukünftig in Richtung Subjektfinanzierung statt Objektfinanzierung gehen. Das ist auch eine unserer Empfehlungen im Strategiebericht zum Rahmenkonzept. Im Moment ist es so, dass ein Objekt, beispielsweise ein Behindertenheim, Geld vom Kanton bekommt. Subjektfinanzierung meint, dass die Person ihre gewünschte Dienstleistung (z. B. die Form, wie sie wohnen möchte) selber erwerben kann. Je nachdem handelt es sich dann um einen stationären Wohnplatz im Heim, eine eigene Wohnung oder eine Wohngemeinschaft: Zwei Mal pro Woche kommt zusätzlich eine Sozialpädagogin vorbei und unterstützt. Die Finanzierung des konkreten Bedarfs kann zu einer Veränderung der Angebote führen.
Das klingt nach schweren Zeiten für Behindertenheime?
Da kommen Herausforderungen auf die Institutionen zu, keine Frage. Es geht aber nicht um das Abschaffen von bestehenden Angeboten, sondern um deren Weiterentwicklung. Die Frage ist doch, wie sich diese neuen Grundsätze übernehmen lassen und wo Institutionen innovativ sein können. Zudem passieren solche Veränderungen nicht über Nacht. Es handelt sich um ein Generationenprojekt.
Sind Behindertenheime also Auslaufmodelle und offene Wohnformen die Zukunft?
Ein radikaler Weg wie in Skandinavien ist in der Schweiz aus meiner Sicht undenkbar. Die skandinavischen Länder setzen stark auf offene Wohnformen, Behindertenheime wurden dort schon vor Jahrzehnten abgeschafft. Ich glaube an ein ausgewogenes Nebeneinander beider Formen. Dafür sollten offene Wohnformen in Zukunft mehr gefördert und Behindertenheime im Angebot breiter und individueller werden. Eine gänzliche Abschaffung der Heime sehe ich zudem kritisch. Ein durchlässiges System bedeutet ja auch, dass jemand von einer eigenen Wohnung wieder zurück in das Heim kann. Zum Beispiel, weil sich der Gesundheitszustand verschlechtert hat oder das fortschreitende Alter Probleme bereitet. Demografie ist auch ein wichtiges Thema in der Behindertenpolitik.
Schutz versus Eigenständigkeit: Wo hat eine unabhängige Lebensführung ihre Grenzen?
Das ist eine ethische Frage. In den letzten Jahren ist man stark vom Fremdbestimmungsgedanken weggekommen. Behinderte sind Experten und Expertinnen in eigener Sache – man sollte sie als Personen wahrnehmen, die selber mitgestalten können, und sie nicht bevormunden. Das ist eine grundsätzliche Haltung. Bei starken Beeinträchtigungen ist der Aktionsradius natürlich kleiner, aber der Grundsatz der Mit- und Selbstbestimmung bleibt. Das haben wir in unserer Studie übrigens gelebt und Echogruppen mit Menschen mit Beeinträchtigungen, also Selbstvertretende, in das Projekt integriert.
An welchen Stellen sehen Sie im Arbeits- und Wohnbereich immer noch Barrieren?
Auch wenn sich einiges bewegt hat, sehe ich nach wie vor Punkte, die angegangen werden müssen. Die berufliche Integration einer Person mit Beeinträchtigung wird oft noch von baulichen oder technischen Hürden erschwert. Ein Jobangebot sollte beispielsweise
nicht daran scheitern, dass eine nicht-barrierefreie Haltestelle es unmöglich macht, mit dem ÖV zur Arbeit zu kommen. Vieles ist leider immer noch in den Kinderschuhen. Aber mit rein architektonischen Verbesserungen ist es nicht getan. Barrierefreiheit, besonders in den Köpfen, ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Dazu gehört, dass alle den Willen haben, Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft zu integrieren.
Wie gross ist die Bereitschaft der Unternehmen, die Menschen zu integrieren?
Eher zurückhaltend. Es gibt etwa im Dienstleistungsbereich sehr viel mehr Möglichkeiten, als im Moment genutzt werden. Dabei könnte das ein grosser Gewinn sein – an Erfahrungen, an Menschlichkeit. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir Menschen, die dem fortschreitenden Tempo in der Arbeitswelt nicht standhalten können, zukünftig mehr Möglichkeiten und Aufgaben geben.
Welche speziellen Herausforderungen sehen Sie für Behinderte im Fall einer Pandemie, wie wir sie gerade erleben?
Als vulnerable Gruppe sind Menschen mit einer Behinderung besonders stark betroffen. Viele von ihnen leiden an chronischen Krankheiten oder haben ein geschwächtes Immunsystem, was bei einer Infektion das Risiko für einen schweren Verlauf besonders erhöht. Zudem leben in den Einrichtungen viele Menschen mit einer Behinderung und eine Vielzahl an Betreuungspersonen unter einem Dach. Dadurch steigt die Ansteckungsgefahr und es müssen besondere Schutzvorkehrungen getroffen werden. Zu guter Letzt bedeutet die «soziale Isolation» auch für Menschen mit Behinderungen eine Einschränkung ihrer Beziehungen zu ihren Familien oder ihren Freundinnen und Freunden.
Kann Digitalisierung Abhilfe schaffen?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wie abhängig wir von der Digitalisierung sind. Auch für Menschen mit Beeinträchtigung kann die Digitalisierung viel Vereinfachung in Form von barrierefreien Webseiten, Apps oder Lernvideos bringen und es möglich machen, den Kontakt zu Familie und Freundinnen und Freunden zu halten. Andererseits brechen durch die Digitalisierung potenzielle Jobs weg, die von beeinträchtigten Menschen ausgeübt werden können – Stichwort Routinetätigkeiten. Der Prozess der Digitalisierung verstärkt manche Barrieren aufgrund der zunehmenden Visualisierung. Die Komplexität von Arbeitsprozessen steigt, ebenso der Zeitdruck. All das senkt Beschäftigungschancen für beeinträchtigte Menschen. Hier sind Unternehmen gefragt, assistive Technologien weiterzuentwickeln und anzuwenden.
Zurück zum neuen Rahmenkonzept: Was erhoffen Sie sich davon?
Dass es überhaupt zu diesem kritischen Beleuchten des bestehenden Rahmenkonzeptes kam, finde ich sehr gut. Es ist ein Statement: Wir wollen an einer zeitgemässen Behindertenpolitik mitgestalten. Das neue Konzept schafft, zumindest in den Bereichen Wohnen und Arbeiten, eine Grundlage und zeigt, wohin es in Zukunft gehen kann. Entscheidend ist nun, wie die Kantone die Rahmenbedingungen in der Gesetzgebung verankern und umsetzen. Das kann nur Schritt für Schritt erfolgen, aber ich bin zuversichtlich, dass ein neuer Weg eingeschlagen wird. Ein Zukunftsweg, der mehr auf den Menschen hinter der Beeinträchtigung schaut und auf seine Bedürfnisse. Und neue Formen des Lebens und des Arbeitens zulässt.
Das neue Rahmenkonzept bildet die Grundlage für die künftige Ausgestaltung der Behindertenpolitik in der Zentralschweiz. Im Interview geht Regierungsrat Christoph Amstad (OW) auf einzelne zentrale Punkte des Konzeptes ein sowie auf den aktuellen Stand der Umsetzung.
Herr Regierungsrat Amstad, welche Erkenntnisse haben Sie aus dem neuen Rahmenkonzept mitgenommen?
Behindertenpolitik ist eine Querschnittaufgabe, welche die Bereiche Soziales, Bildung, Gesundheit und Wirtschaft betrifft. Deshalb ist es wichtig, diese Bereiche mehr aufeinander abzustimmen und auf Höhe der UNO-Behindertenrechtskonvention zu halten. Eine zukunftsorientierte und gemeinsam gestaltete Behindertenpolitik in der Zentralschweiz stiftet für alle einen Mehrwert.
Welche Rahmenbedingungen liessen sich Ihrer Meinung nach recht problemlos installieren, wo sehen Sie Herausforderungen?
Im Bereich des individuellen Betreuungsbedarfs (IBB) ist die Zusammenarbeit mit den Ostschweizer Kantonen bereits fortgeschritten und in Umsetzung. Die Kantone Luzern und Zug haben in punkto Subjektfinanzierung in der Zentralschweiz bereits eine Vorreiterrolle. Die Zentralschweizer Sozialdirektorinnen und -direktorenkonferenz (ZSODK) wird regelmässigen Austausch mit Best-Practice-Beispielen aus den Kantonen fördern, um auch den Überblick zu haben, wo die einzelnen Kantone stehen. Für die Begleitung des Themas hielte ich zudem eine Arbeitsgruppe auf Fachebene für sinnvoll.
Behindertenpolitik ist Minderheitenpolitik. Umso mehr braucht es Unterstützer und Lobbyistinnen. Wie hoch schätzen Sie die politische Schlagkraft des Konzeptes ein?
Sämtliche Zentralschweizer Regierungen haben dem Projekt zugestimmt und unterstreichen damit die Wichtigkeit der Kooperation in der Behindertenpolitik. Wir haben nun ein modernes Konzept, das durch die Regierungen breit abgestützt ist. Es soll an einer der nächsten ZRK (Zentralschweizer Regierungskonferenz)-Sitzungen als Schwerpunktthema vorgestellt werden und so auch eine politische Würdigung erhalten. Es gilt nun, den Schwung in der Zentralschweizer Zusammenarbeit in der Behindertenpolitik mitzunehmen und eine zukunftsorientierte Umsetzung in den Kantonen voranzutreiben.