Mirjam Wishart-Aregger
«Ich will keine Spitex-Besuche und ins Altersheim gehe ich auch nicht», grummelt der 85-jährige Alfred. Seit kürzlich seine Frau verstorben ist, hat er stark abgenommen. Sein Beistand, der ihn zu Hause besucht, stellt fest: Der Kühlschrank ist leer, die Körperhygiene schlecht und die sozialen Kontakte abgebrochen.
Alfred möchte aber weiterhin allein wohnen, Unterstützung lehnt er vehement ab. Der Beistand steht vor einem Dilemma: Soll er für seinen Mandanten gegen dessen Willen Unterstützung anordnen? Muss dieser sogar ins Altersheim? Oder kann er in der Wohnung bleiben, obwohl seine Gesundheit stark gefährdet ist? Schliesslich ist ein Beistand verpflichtet, den Schutz seines Mandanten sicherzustellen.
Schutzpflicht versus Selbstbestimmung
Das Beispiel zeigt das Spannungsfeld vieler Sozialarbeitenden und Fachpersonen im Kindes- und Erwachsenenschutz auf: Sie müssen in schwierigen Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen oder Personen mit einer Beeinträchtigung stellvertretend Entscheidungen treffen, mit denen ihre Mandantinnen und Mandanten manchmal nicht einverstanden sind. Zu deren eigenem Schutz. Gleichzeitig ist dies oftmals ein empfindlicher Eingriff in die Grund- und Menschenrechte.
Menschenrechtsexpertin Gülcan Akkaya und ihr Team von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit haben mit einem Leitfaden eine Grundlage für Fachpersonen geschaffen, damit sich diese in solch schwierigen Situationen an den Grund- und Menschenrechten orientieren und grundrechtskonform handeln können. Anhand von Interviews mit 60 Fachpersonen aus verschiedenen Bereichen des Kindes- und Erwachsenenschutzes wurden typische und häufige Fälle zusammengetragen. Ergänzt mit rechtlichen Erwägungen gibt das Werk konkrete Handlungsempfehlungen für die tägliche Arbeit ab.
Menschenrechte als Wegweiser
Als zentrale Orientierungspunkte dienen dabei die Grund- und Menschenrechte. «Entgegen der allgemeinen Auffassung gelten diese Rechte in der Schweiz nicht absolut, sondern werden gerade im Kindes- und Erwachsenenschutz unmittelbar beschnitten», führt Gülcan Akkaya aus. Um einige Beispiele zu nennen: Die Unterbringung eines Erwachsenen in einer psychiatrischen Klinik ist ein massiver Eingriff in dessen Autonomie, die Fremdplatzierung eines Kindes kann wiederum die Erziehungsrechte der Eltern tangieren. Grundsätzlich gilt: Je schwerer der Eingriff in diese Rechte ist, desto höher sind die Anforderungen und desto differenzierter muss die Interessenabwägung vorgenommen werden – eine höchst anspruchsvolle Aufgabe.
Thema Demenz auf dem Vormarsch
Die Fallauswertung des Teams der Hochschule Luzern zeigt im Bereich Kindesschutz ein häufiges Spannungsverhältnis zwischen Kindeswohl und Kindeswille: «Kinder und Jugendliche haben einen Anspruch auf rechtliches Gehör und sind in Angelegenheiten, die sie betreffen, einzubeziehen. Gleichzeitig darf ihr Wille nicht unhinterfragt als Richtschnur gelten», sagt Gülcan Akkaya. Wenn etwa ein Jugendlicher ausziehen will, weil er seinen autoritären Vater nicht mehr aushält: Hier muss geklärt werden, ob eine Gefährdung vorliegt oder primär der Erziehungsstil des Vaters gestärkt werden kann. Unter Umständen ist es für die Entwicklung des Jugendlichen sinnvoll, wenn er – zumindest vorübergehend – in einer Institution untergebracht wird.
Im Erwachsenenschutz wird das Thema Demenz die Fachpersonen künftig noch mehr fordern: «Gerade bei leichten Formen der Krankheit ist abzuwägen, inwieweit die Betroffenen noch selbstständig leben und entscheiden können. Wichtig ist, ihre Anliegen und Bedürfnisse ernst zu nehmen, denn sie haben ein Recht auf Selbstbestimmung», so Akkaya. Lehnen die Betroffenen Unterstützung ab, bieten vorübergehende Massnahmen, wie Spitex-Besuche oder Mahlzeitendienste, einen guten Kompromiss. Besteht aber eine Gefährdung, etwa wenn jemand kaum noch isst oder trinkt, sind die Fachpersonen verpflichtet, weitere Massnahmen einzuleiten.
Praxistaugliche Orientierungshilfe
Diese Spannungsfelder sind auch Monika Keller Hasler, Leiterin der KESB Obwalden, bestens bekannt: «Unser Team ist fast täglich mit grundrechtlichen und ethischen Fragen konfrontiert.» Etwa, wenn ein Kind plötzlich den Kontakt zur Mutter verweigert, weil es im Elternkonflikt zwischen die Fronten gerät und sich mit einer Seite solidarisiert. «In solchen Fällen müssen unsere Mitarbeitenden oftmals Entscheide treffen, die nicht dem geäusserten Willen des Kindes entsprechen. Das braucht viel Fingerspitzengefühl.» Den Leitfaden der Hochschule Luzern sieht sie als hilfreiche Unterstützung: «Schwierige Fälle besprechen wir jeweils in unserem interdisziplinär zusammengesetzten Team. Die konkreten Fallbeispiele und Empfehlungen aus dem Leitfaden sind dafür eine optimale Ergänzung.»
Erkenntnisse fliessen in den Unterricht ein
Zusätzlich zum Handbuch bietet die Hochschule Luzern für die Praxis zahlreiche Seminare zu Grundund Menschenrechten an. Und der Bedarf ist gross: «Mit den über 200 bisherigen Teilnehmenden konnten wir bereits viele brennende Fragen im direkten Austausch klären», so Akkaya. Der Leitfaden fliesst zudem in den Unterricht an der Hochschule Luzern ein. Ein wichtiges Anliegen von Gülcan Akkaya: «Damit die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von morgen schon heute für die Grund- und Menschenrechte sensibilisiert werden.»