Interview: Mirjam Wishart
Sie haben die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in der Schweiz untersucht. Gleich vorweg: Ist die viel beschworene «Vereinbarkeit» überhaupt möglich oder eher eine Illusion?
Klar ist eine Vereinbarung möglich. Wir alle vereinbaren Beruf und Privatleben irgendwie: Ob als Mutter oder Vater, Angehörige von Pflegebedürftigen, Engagierte in Politik und Verbänden und vieles mehr. Dies gelingt halt besser oder schlechter. Unsere Studie, die wir im Auftrag der Fachstelle UND durchgeführt haben, zeigt, dass dieser Spagat meist als Belastung oder Konflikt wahrgenommen wird. Das muss aber nicht sein: Mit den richtigen Rahmenbedingungen liessen sich Beruf und Privates nicht nur verbinden, sondern könnten sich gegenseitig bereichern.
Was braucht es für eine «gute» Vereinbarkeit?
Diese hängt von Faktoren auf drei Ebenen ab: den Individuen, den Unternehmen und der Gesellschaft respektive der Politik. Gemäss unserer Analyse sind die persönlichen Ressourcen wichtig, die eine Person mitbringt, um ihre Work-Life-Balance zu «managen». Dazu gehören gezielte Zeitplanung, private Unterstützung oder Abgrenzungsstrategien. Auch das Arbeitsumfeld in den Unternehmen ist entscheidend: Eine offene Unternehmenskultur, familienfreundliche Vorgesetzte sowie Freiheiten für die Mitarbeitenden, ihre Arbeitszeiten und -orte selbst einzuteilen, sind zentral. Auf der politischen Ebene sind es staatliche Regelungen zu Unterrichts- und Arbeitszeiten, Vorgaben zum Elternurlaub sowie Angebote für die Kinderbetreuung, die eine gute Vereinbarkeit möglich machen. Das wäre die Theorie.
Zur Realität: Wo stehen wir in der Schweiz heute tatsächlich?
Die Schweiz ist sehr zögerlich, wenn es um die Einführung von Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit geht. Im Vergleich mit anderen OECD-Staaten sind die familienpolitischen Ausgaben enorm tief. Die Schweiz verfügt über einen kurzen Mutterschaftsurlaub und belegt im OECD-Vergleich den drittletzten Platz. Nur die USA oder Mexiko bieten noch weniger an. Zudem fehlen bis heute ein richtiger Vaterschafts- bzw. Elternurlaub und tatsächlich finanzierbare Krippenplätze in diversen Regionen der Schweiz.
Diese Defizite sind seit Jahren bekannt. Warum ist es so schwer, die Massnahmen umzusetzen?
Zum einen, weil die Schweiz kein einheitliches Konzept und keine nationale Verfassungsgrundlage für Familienpolitik kennt. Es ist ein Querschnittsthema mit diversen Playerinnen und Playern: So ist die öffentliche Kinderbetreuung auf Gemeindeebene geregelt, das Schulwesen liegt beim Kanton und der Mutterschaftsurlaub ist ein Thema auf Bundesebene. Das macht es schwierig, neue Massnahmen durchzusetzen. Das föderalistische System der Schweiz, die direkte Demokratie, die langen Entscheidungswege mit diversen Veto-Möglichkeiten sind weitere Hindernisfaktoren.
Die skandinavische Familienpolitik wird oftmals als Vorbild herangezogen. Wäre das nicht DIE Lösung?
Tatsächlich funktioniert in Ländern wie Schweden die Vereinbarung von Beruf und Familie ziemlich gut. Schweden zeigt, wie eine gut laufende Wirtschaft und grosszügige Familienpolitik Hand in Hand gehen. Das Land hat bereits in den 1970er-Jahren auf nationaler Ebene eine einheitliche Familienpolitik eingeführt, die alles durchdringt. Eine vergleichbare Politik ist in der Schweiz mit ihrem föderalistischen System eher schwierig. Aber daran orientieren können wir uns allemal. Zum Beispiel habe ich kürzlich eine Studierendenreise nach Schweden geleitet und dabei verschiedene Unternehmen besucht. Die Geschäftsführerinnen und -führer haben uns etwa berichtet, dass sie die grosszügigen Elternurlaube sehr unterstützen, da die jungen Väter oder Mütter jeweils sehr engagiert zurückkommen. Der «Mehraufwand», etwa einer Überbrückungslösung, lohne sich für die Unternehmen allemal.
Derzeit forschen Sie an der renommierten University of California, Berkeley – der Hippie-Hochburg schlechthin. Spüren Sie den «Hippie-Spirit» noch?
Der Geist der Hippie-Bewegung ist auf dem Campus noch immer gegenwärtig. Es gibt regelmässig kleine Demonstrationen und es wird viel und gerne debattiert. Die Studierenden sollen und dürfen politisch und kritisch sein. Das gefällt mir sehr. An die eigentliche Geschichte erinnert etwa unsere Mensa, die den Namen «Free speak» trägt, sowie Gedenktafeln über berühmte Absolventinnen, Mitarbeiter oder Nobelpreisträgerinnen. Ich teile mir ein Büro mit einer Kollegin aus Israel, einer Inderin und einer Professorin aus China. Diese Konstellation ergibt enorm spannende Diskussionen und zeigt, dass die Vereinbarkeitsfrage die Menschen weltweit stark beschäftigt.
Was nehmen Sie für die Hochschule Luzern weiter an Erfahrung mit?
Ich habe schnell festgestellt, dass in den USA «Gender» ein ganz grosses Thema ist. Etwa bei Anmeldungen an Konferenzen muss man aus zig Kategorien von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen auswählen. Da blicke ich teilweise selbst nicht mehr durch. Zudem will die Stadt Berkeley in sämtlichen offiziellen Dokumenten eine geschlechterneutrale Sprache einführen. Das klingt jetzt alles etwas extrem, aber dahinter steht die Absicht, möglichst offen zu sein und nicht in Stereotypen zu denken. Diese Denk- und Vorgehensweisen werden meine künftigen Projekte an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit sicher prägen. Auch wird Antidiskriminierung sehr ernst genommen: Als neue Mitarbeiterin der UC Berkeley musste ich gleich zu Beginn eine Online-Schulung absolvieren, damit ich weiss, was zu tun ist, wenn Studierende wegen Diskriminierung, z. B. sexueller Belästigung, zu mir kommen. Dieses Tool habe ich gleich an meine Schweizer Kolleginnen und Kollegen geschickt. Vielleicht können sie es auch für ihre Arbeit gebrauchen.
Wie steht es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den USA?
Da ist die USA sicher kein Vorbild. Die extreme soziale Ungleichheit ist erschreckend: Viele Angestellte leben mit einem Minimallohn von 15 Dollar pro Stunde. Besonders in der Gegend, wo wir leben, sind die Hauspreise so hoch, dass viele ärmere Familien bei Verwandten unterkommen oder zeitweise gar im Auto oder auf der Strasse leben. Die Kindertagesstätten sind aber mindestens so teuer wie in der Schweiz. Auch einen Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub gibt es nicht. Es fehlt also an den wichtigsten Rahmenbedingungen.
Zurück in die Schweiz: Initiativen für mehr Vaterschaftsurlaub, nationaler Frauenstreik – politisch läuft gerade einiges. Ist die Schweiz auf gutem Wege?
Die Situation in der Schweiz ist im Moment etwas widersprüchlich: Zwar herrscht noch immer ein eher konservatives Rollenverständnis von Frau und Mann vor, gleichzeitig wollen viele Menschen einen Wandel. So hat unsere repräsantive nationale Befragung von rund 2’000 Erwerbstätigen (Nationales Barometer Gleichstellung 2018) gezeigt, dass 98 Prozent der Frauen und 88 Prozent der Männer für mehr Massnahmen zur Verbesserung der Lohngleichheit sind. Mit dem diesjährigen Frauenstreik wurde die Gleichstellungsdebatte neuerdings auch wieder etwas kämpferischer. Ich erwarte zwar keine Wunder, aber es geht in kleinen Schritten vorwärts. Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Lohnkontrollen in Firmen.
Gerade die Unternehmen spielen eine wichtige Rolle in der Vereinbarkeitsdebatte.
So ist es. Berufstätige Eltern leiden heute stark unter den langen Arbeits- und hohen Präsenzzeiten. Um Familie und Beruf dennoch zu vereinbaren, stecken beruflich meist die Frauen zurück. Sie wechseln häufig die Stelle und/oder reduzieren das Pensum: Vier von fünf erwerbstätigen Müttern arbeiten heute Teilzeit, bei den Männern nur einer von neun. Viele Frauen landen dann in der «Karriere-Sackgasse» mit wenig Aufstiegschancen. Hier müssen die Unternehmen in die Pflicht genommen werden. Gemäss unserer Studie ist die Unternehmenskultur für eine bessere Vereinbarkeit sehr entscheidend. Zeigen Vorgesetzte Verständnis, leben selbst eine gute Vereinbarkeit vor und fragen Angestellte regelmässig nach ihrer familiären Situation, kann sich dies positiv auswirken. Es gibt bereits einige Unternehmen, die «ausserberufliche Erfahrungen» wie Familie, Hobbys oder andere private Verpflichtungen gleich wie Berufserfahrung bei den Lohnberechnungen oder sogar direkt mit zusätzlichen Ferientagen honorieren. Zudem entscheidend: mehr Flexibilität statt kleinerer Pensen. Kann sich eine Mitarbeiterin oder ein Mit-arbeiter die Arbeitszeit und den -ort selbst einteilen, wenigstens teilweise, lassen sich auch Beruf und Privatleben besser vereinbaren. Zufriedene Mitarbeitende sind schliesslich auch gut für das Unternehmen. Gerade mit den heutigen technischen Möglichkeiten von Skype und Co. wäre es vielerorts nicht notwendig, dass die Mitarbeitenden immer anwesend sind. Aber in den Firmen und Verwaltungen gibt es viele Ängste und Widerstände, bestehende Strukturen abzubauen. Man muss ein Stück Kontrolle an die Mitarbeitenden abgeben. Oftmals ist es für die Vorgesetzten einfach bequemer, in alten Strukturen zu verharren.
Karriere und Kind – Skeptikerinnen und Skeptiker sagen, man kann halt nicht beides haben.
Das ist Quatsch! Wir müssen die Rahmenbedingungen so verändern, dass die Entscheidung zwischen Familie und Karriere nicht mehr notwendig ist. Und zwar für alle.
Wie meinen Sie das?
Wir wissen aus diversen Studien, dass gerade Eltern mit Migrationshintergrund oder tiefer qualifizierter Ausbildung extrem Mühe haben, Beruf und Familie zu vereinbaren. Es gibt weder Verwandte in der Nähe, die sich an der Betreuungsarbeit beteiligen, noch reicht der Lohn aus, um sich eine Kita zu leisten. Folglich bleibt oft die Frau zu Hause. Besonders schwierig ist es für Alleinerziehende sowie für Personen mit behinderten Kindern oder pflegebedürftigen Eltern. Sie reiben sich oftmals bis zur Erschöpfung zwischen Beruf und Familie auf. Gerade in solchen Fällen reicht eine «gute Organisation» definitiv nicht aus.
Wie bringen Sie selbst Kinder und Karriere unter einen Hut?
Das ist eine gute Frage (lacht). Ich arbeite zwar viel, aber verbringe auch viel Zeit mit meinen Kindern. Ich reserviere mir immer wieder Tage, die nur für meine drei Kinder da sind. Diese sind drei, sechs und acht Jahre alt. Daneben versuche ich mir auch Zeit für mich selbst und andere soziale Beziehungen zu nehmen. Zudem lebe ich im Moment in einer «Luxus-Situation», da mein Mann hier in den USA ein «StayAt-Home-Dad» ist. Er kümmert sich um alles: vom Einkaufen und Kochen über die Kita hin zu Arztbesuchen mit den Kindern. Daher kann ich in einem Vollzeitpensum tätig sein. Das ist aber die Ausnahme, in der Schweiz arbeiten wir jeweils beide in einem Pensum um die 70 Prozent. Wichtig ist, dass es für uns beide stimmt. Aber Pensum hin oder her, ohne Abstriche geht das natürlich nicht: Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mehr Sport machen, mehr lesen oder malen und vielleicht zusätzliche Ämter oder andere Verpflichtungen übernehmen. Ich denke, ich gebe als Professorin und als Mutter mein Bestes, aber versuche nicht perfekt zu sein. Gibt es Konflikte zwischen Job und Familie, beziehe ich meine Kinder mit ein. So musste ich ausgerechnet am Geburtstag meiner Tochter zu einer wichtigen Konferenz nach New York. Wir haben gemeinsam nach einer Lösung gesucht. So einfach wie das jetzt klingt, ist es natürlich nicht. Aber ich bin überzeugt, je positiver man damit umgeht, desto besser läuft es auch. Ich versuche jeden Tag, den Spagat als Bereicherung zu leben. Meine Forschung profitiert von den Erfahrungen mit der Familie und umgekehrt bereichert mein Beruf auch die Beziehungen zu Hause mit vielen spannenden Diskussionen.
Ihr Geheimtipp für Frauen und Männer für eine bessere Vereinbarkeit?
Erstmal die persönliche Situation glasklar analysieren: Was ist mir wichtig, wie geht es mir dabei, was will ich ändern und wo kann ich Abstriche machen? Wenn es effektiv zu viel ist, gewisse Aufgaben abgeben oder delegieren – im Job wie auch im Privatleben. Und möglichst viele beteiligte Personen, die Partnerin oder den Partner, die Kinder, Verwandte oder Arbeitskolleginnen und -kollegen, miteinbeziehen. Und ganz wichtig: Schwierige Rahmenbedingungen, sei es im Unternehmen oder auf politischer Ebene, nicht als gegeben akzeptieren. Für eine Veränderung kämpfen. Das ist die beste Basis, damit sich Beruf und Privatleben nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern für möglichst viele endlich besser vereinbaren lassen.