Eva Schümperli-Keller
«In unsere Beratungen kommen kaum Menschen über 50 und erst recht keine über 70», bedauert Franziska Stettler. Sie ist Fachperson Sexuelle Gesundheit am Zentrum für sexuelle Gesundheit des Inselspitals Bern und lehrt im Fachseminar Sexualität und sexuelle Gesundheit im Alter, das an der Hochschule Luzern angeboten wird. Vorbereitend auf das Fachseminar konnte Stettler mit sieben Bewohnenden eines Altersheims über Liebe, Sexualität und Partnerschaft sprechen: eine rare Gelegenheit, die Stimmen Betroffener einzufangen. «Für die Generation ‹70 plus› ist Sex häufig ein Tabu, über das man nicht spricht.»
Die sexuelle Revolution wirkt nach
Dies bestätigt Daniel Kunz. Der Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit ist verantwortlich für das Fachseminar Sexualität und sexuelle Gesundheit im Alter. Die Generation der über 70-Jährigen habe nicht von den gesellschaftlichen Veränderungen profitieren können, welche die Sexualität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts enttabuisierte und von der blossen Reproduktion loskoppelte. «Die sogenannten ‹Babyboomer› jedoch», erklärt Kunz, «welche die sexuelle Revolution miterlebten und jetzt ins Pensionsalter kommen, sind damit auch die erste ältere Generation, die mit ihrer Sexualität offen umgeht, also etwa auch Körperlichkeit wie Küssen oder Händchenhalten in der Öffentlichkeit zeigt.»
Sexualität erlischt nicht
Denn es ist keineswegs so, dass der Mensch irgendwo auf dem Weg zwischen der ersten AHVRente, der Grosselternschaft und der Hochaltrigkeit damit aufhört, ein sexuelles Wesen zu sein. «Die Freude am Sex ist komplett altersunabhängig», betont Yvonne Gilli. Sie ist Ärztin und Dozentin im gleichen Fachseminar wie Franziska Stettler. Natürlich gebe es körperliche Veränderungen im Alter, und diese beeinflussten teilweise auch die Sexualität, etwa die eingeschränkte Beweglichkeit, trockene Schleimhäute oder Erektionsschwäche, so Gilli. Psychische Hemmnisse seien Schamgefühle, weil der alternde Körper nicht dem ästhetischen Ideal entspreche, oder die langjährigen Beziehungen, welche die Häufigkeit von sexuellen Aktivitäten verringerten, was allerdings auch bei jüngeren Menschen zu beobachten sei. Doch sei es keinesfalls so, dass die Sexualität im Alter erlösche, sagt Gilli. Das Wohlgefühl an der körperlichen Erregung begleite uns Menschen über die ganze Lebensspanne, und Sexualität bleibe bis ins höchste Alter ein relevantes Thema.
Zwischen Inkontinenzslips und Viagra
In ihrer Praxis spricht Yvonne Gilli ihre älteren Patientinnen und Patienten auf ihr Sexualleben an und macht die Erfahrung, dass diese sich ihr als Vertrauensperson durchaus öffnen. Ein häufiges Problem älterer Menschen ist die Harninkontinenz, die mit viel Scham besetzt ist und nicht nur Partnerschaft und Sexualität, sondern sämtliche Lebensbereiche beeinträchtigt. Beckenbodentraining stärkt den schwächer werdenden Muskel und kann eine gute Therapie nicht nur für mehr Lebensqualität, sondern auch für ein gelingendes Sexualleben sein. Gilli verschreibt in ihrer Praxis auch Viagra, doch es ist ihr wichtig zu betonen, dass nicht alle Männer unter ihrer Erektionsschwäche litten: «Sexualität ist viel mehr als Geschlechtsverkehr. Es gibt viele Arten, Zärtlichkeit auszutauschen.» Überhaupt wehrt sich die Ärztin gegen das defizitorientierte Bild der Sexualität und des menschlichen Körpers im Alter. Gerade der Blick auf den alten weiblichen Körper sei überaus negativ. «Wenn ich mir all die Werbung in Alterszeitschriften ansehe, lesen sich weder Angebote für Inkontinenzeinlagen noch für Anti-Aging-Produkte lustvoll », sagt Gilli. Der Blick auf den alten männlichen Körper sei da schon etwas gnädiger. «Denken Sie nur an die männlichen Schauspieler, die im höheren Alter tolle Charakterrollen bekommen, während Schauspielerinnen ab 60 kaum noch besetzt werden! Und an die älteren Männer, die in zweiter Ehe eine deutlich jüngere Frau wählen; umgekehrt ist das noch eher selten der Fall und wird sehr kritisch gewertet.»
Das gesellschaftliche Tabu brechen
Egal ob Mann oder Frau: Dass «Alte» Sex haben, ist ein gesellschaftliches Tabu. Darin sind sich Yvonne Gilli, Franziska Stettler und Daniel Kunz einig. Und ebenso einig sind sie sich darin, dass dieses Tabu schleunigst verschwinden muss. Denn jetzt kommen die «Babyboomer» in die Jahre, und diese werden ihre Sexualität auch im Alter ganz anders pflegen als die Generationen vor ihnen und ihre sexuellen Rechte, die auch Menschenrechte sind, bis ins hohe Alter einfordern. Darauf ist die heutige Gesellschaft, die stark auf die Jugend fokussiert ist, schlicht nicht vorbereitet. Es ist deshalb dringend nötig, dass sich Beratungsstellen und Alters- und Pflegeheime auf diese «neuen Alten» und ihre – auch sexuellen – Bedürfnisse einstellen und ihre Mitarbeitenden entsprechend schulen. Und wir alle sind als Gesellschaft aufgefordert, älteren Menschen ihre Sexualität nicht länger abzusprechen und das Tabu der Alterssexualität endlich ad acta zu legen.