Interview: Flavia Dubach
Joël Luc Cachelin, die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit wird 2018 100 Jahre alt. Wird es auch im Jahr 2118 noch Fachpersonen der Sozialen Arbeit brauchen?
Ja, auf jeden Fall. Vermutlich wird dieses Berufsfeld sogar noch wichtiger. Auch in 100 Jahren werden wir darüber diskutieren, wie wir eine Gesellschaft schaffen, an der möglichst viele Menschen teilhaben können.
Gemäss einer Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen wächst der Sozialbereich in der Schweiz bis 2030 um 52 Prozent. Gleichzeitig sagen Fachpersonen der Oxford University voraus, dass im gleichen Zeitraum jeder zweite Mensch in seinem Job überflüssig wird. Haben Professionelle der Sozialen Arbeit schlicht den richtigen Beruf für die Zukunft gewählt?
Das Berufsfeld der Sozialen Arbeit ist im Hinblick auf die Zukunft sicher keine schlechte Wahl. Neben dem Handwerk und der Kreativität gehören soziale Tätigkeiten zu den Arbeitsfeldern, die von der Digitalisierung am wenigsten betroffen sind. Für Maschinen ist es schwierig, hier Aufgaben zu erfüllen. Zwischenmenschliche Aktivitäten wie anderen Menschen zu helfen, sich um sie zu kümmern oder ihre Gefühle zu erkennen, gewinnen an Bedeutung.
Welche Kernkompetenzen sollten in der Aus- und Weiterbildung von Professionellen der Sozialen Arbeit besonders gefördert werden, damit diese fit für die Zukunft werden?
Die Selbstkompetenz, die bereits heute einen grossen Stellenwert hat, wird noch wichtiger. Wir alle müssen uns ständig reflektieren, unsere Stärken und Schwächen erkennen und auch Grenzen setzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Veränderungsfähigkeit, um mit dem rasanten Tempo, in dem sich die Welt entwickelt, mitzuhalten. Und ich bin der Meinung, dass auch Geduld und Verzicht – als Gegensätze zur Hektik des Digitalen – an Bedeutung gewinnen.
Sie skizzieren für die Zukunft eine Entwicklung weg von der Vollbeschäftigung hin zur Potenzialwirtschaft. Können Sie dies näher ausführen?
Die «alte» Arbeitswelt und die Politik streben heutzutage nach einer Vollbeschäftigung. Einem Land geht es dann gut, wenn die Arbeitslosenquote niedrig ist und alle einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Gemäss einer Studie haben aber 75 Prozent der Managerinnen und Manager in der Schweiz das Gefühl, dass sich ihre Mitarbeitenden während der Arbeit langweilen. Ich plädiere deshalb für eine Potenzialwirtschaft, in der Menschen ihren Leidenschaften nachgehen und ihr Potenzial besser einbringen können.
Arbeitsvertrag und Loyalität zu einem bestimmten Betrieb verlieren in dieser Zukunftsvision an Bedeutung – Menschen bieten ihre Potenziale über Unternehmensgrenzen hinweg an. Was bedeutet dies für die Sozialversicherungen?
Wir können die Zukunft der Arbeit nicht losgelöst von der Gesellschaftspolitik denken. Aspekte wie Sozialversicherungen oder Steuern müssen in dieser Vision sicher neu diskutiert werden. Das Grundeinkommen ist ein möglicher Weg. Mit diesem würde der Druck des Erwerbslebens entfallen und die in Zukunft so wichtige Kreativität wäre auf einem ganz anderen Level möglich. Menschen könnten zudem auch mehr soziale Aufgaben übernehmen, die der Gesellschaft als Ganzes zugute kommen und nicht nur der Wirtschaft.
Fachpersonen der Sozialen Arbeit übernehmen heute schon Aufgaben für die Gesellschaft. Wenn in Zukunft auch andere Menschen solche Tätigkeiten ausführen, wie sieht dann die Abgrenzung zu den Expertinnen und Experten aus?
Ich sehe hier Möglichkeiten im Coaching-Bereich. Die Soziale Arbeit kann die Selbstreflexion unterstützen und z. B. aufzeigen, was man gut kann oder wo es verstecktes Potenzial gibt. Auch im Bereich der Koordination gibt es Möglichkeiten für die Soziale Arbeit: Die Professionellen können Teams zusammenstellen oder Abläufe organisieren. Zudem müssen sie auch im politischen Umfeld aktiv bleiben und aufzeigen, wieso die Soziale Arbeit für die Gesellschaft so wichtig ist, beziehungsweise welche Reformen es für eine neue Arbeitswelt braucht.
Könnte eine Potenzialwirtschaft nicht auch dazu führen, dass die Menschen egoistische Einzelkämpfer ohne Verpflichtungen gegenüber einem Unternehmen oder einem Team werden? Bedeutet dies für die Gesellschaft noch mehr «Survival of the Fittest»?
Die Potenzialwirtschaft hat einen grossen Vorteil: Sie führt zu mehr Freiheiten für alle. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass sich die «The-winner-takes-it-all»-Logik durchsetzt – sowohl auf der Ebene der Unternehmen (z. B. Google) wie auch der Mitarbeitenden. In der Zukunft wird es noch mehr Wissensarbeiterinnen und -arbeiter geben, die als Nomaden zwischen Unternehmen pendeln und ihre eigenen Bedingungen stellen können. Gleichzeitig sind andere dem Druck des Marktes vollständig ausgeliefert. Reformen im Bereich der Bildung, der Infrastruktur, der Steuern oder eben der Sozialversicherungen könnten diese Logik aber aufbrechen. Und es scheint auch so, dass herkömmliche Karrieren und hierarchische Organisationsformen weniger wichtig werden.
Was bedeutet es für das Sozialleben der Menschen, wenn sie während der Arbeit weitgehend auf sich allein gestellt sind und keine Arbeitskollegen und -kolleginnen im herkömmlichen Sinn mehr haben?
Als selbstständig Erwerbender habe ich nicht das Gefühl, zu vereinsamen. Ich treffe sehr viele Menschen und mache interessante Bekanntschaften. Nur ist bei mir alles etwas flexibler und unvorhersehbarer als bei anderen. Aber ja, ich trage die Verantwortung, mir selbst ein soziales Umfeld zu schaffen, während dies in der «alten» Arbeitswelt automatisch gegeben ist.
Die Digitalisierung verändert unser soziales Zusammenleben bereits jetzt. Sind Menschen in Zukunft überhaupt noch zu realen Beziehungen fähig?
Natürlich üben die digitale Welt und soziale Medien – auch aus ökonomischen Gründen – eine grosse Anziehungskraft auf die Menschen aus. Ich bin der Meinung, dass das Bedürfnis nach menschlicher und körperlicher Nähe aber viel zu gross ist, als dass wir in Zukunft nur noch digital miteinander kommunizieren. Wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht in einen Neo-Konservatismus verfallen und in den neuen Technologien automatisch nur das Schlechte sehen. Wenn wir 100 Jahre zurückblicken, dann waren die Beziehungen damals auch ganz anders und wir möchten nicht zurückgehen. Unsere Beziehungen sind vielfältiger, weniger an einen bestimmten Ort gebunden und die Geschlechterbilder haben sich verändert. Ich glaube fest daran, dass dieser Fortschritt weitergeht und unsere Beziehungen gerade durch Technologie vielfältiger, selbstbestimmter und ehrlicher werden.
Künstliche Intelligenz und Robotik sind auf dem Vormarsch – welche Chancen beinhalten sie für die Soziale Arbeit?
Gerade für Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen bietet die Robotik viele Möglichkeiten, da sie den Menschen zu mehr Selbständigkeit verhilft, z. B. dank dem Internet der Dinge oder Exoskeletten (Exoskelette stützen den Körper von aussen. Sie werden entwickelt, um Menschen mit Bewegungseinschränkungen das Gehen zu ermöglichen, Anm. d. Red.). Ich bin nicht der Meinung, dass die Roboter die Fachpersonen der Sozialen Arbeit ersetzen können. Vielmehr glaube ich an eine neue Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Dank Robotern, die gewisse Arbeiten übernehmen, haben die Expertinnen und Experten mehr Zeit, sich auf die soziale Interaktion mit den Klientinnen und Klienten zu konzentrieren.
Wird es für Roboter irgendwann möglich sein, Empathie zu empfinden?
Es kommt darauf an, wie man Empathie definiert. Gerade kürzlich habe ich von einer Anwendung künstlicher Intelligenz gelesen, die aufgrund von Instagram-Bildern erkennt, ob ein Mensch an einer Depression leidet. Natürlich ist das nicht Empathie im herkömmlichen Sinn, aber diese Fähigkeiten müssen uns schon zu denken geben. Und wir könnten die Maschinen selbstverständlich einspannen, um Menschen zu helfen. Ob Maschinen dazu fähig sind, Gefühle zu entwickeln – insbesondere ob sie sich selbst erkennen und reflektieren können – bleibt für mich eine Glaubensfrage, die im Moment nicht abschliessend beantwortet werden kann.