Von Isabel Baumberger
Im Zusammenhang mit einigen spektakulären Fällen ist der Kindesschutz in letzter Zeit verschiedentlich in die Schlagzeilen geraten, und die zuständigen Behörden sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht angemessen auf mögliche Gefährdungen reagiert zu haben. Zweifellos gehört die Abklärung eines Verdachts auf Kindeswohlgefährdung zu den anspruchsvollsten Aufgaben der Sozialen Arbeit. Im internationalen Umfeld befasst man sich deshalb schon seit gut 20 Jahren mit ihrer fachlichen Systematisierung; hierzulande steckt diese jedoch noch in den Kinderschuhen.
Nun hat die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit zusammen mit der Berner Fachhochschule ein schweizweit neuartiges Instrument entwickelt, das auf gesicherten Forschungsergebnissen beruht und speziell auf die gesetzlichen Grundlagen in der Schweiz zugeschnitten ist. Es funktioniert computergestützt und führt die zuständige Fachperson Schritt für Schritt durch den Abklärungsprozess. Dieser analysiert die Situation, überprüft den Handlungsbedarf und eruiert – eine der Besonderheiten des Tools – geeignete Massnahmen. Dieser letztgenannte Aspekt sei dem Entwicklungsteam sehr wichtig gewesen, sagt Co-Projektleiter Dr. Andreas Jud vom Institut Sozialarbeit und Recht der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. «Im neuen Instrument, das mit konkreten Ankerbeispielen arbeitet, sind die aufgrund unserer Rechtsgrundlagen möglichen Massnahmen im Hintergrund abgelegt – entsprechende Informationen werden der abklärenden Fachperson aufgrund der Situationsanalyse angezeigt.» Das könne in der Praxis eine grosse Hilfe sein, bestätigt der Leiter Bereich Soziales der Stadt Zofingen, Walter Siegrist. Er sass im fachlichen Beirat des Entwicklungsteams und hat das Abklärungsinstrument getestet. «Unsere Abklärungen im Auftrag des Familiengerichts – im Kanton Aargau die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) – werden meist von Sozialarbeitenden durchgeführt, was sicher richtig ist. Die Massnahmen, die wir der KESB empfehlen, sollten jedoch rechtlich bereits umfassend abgeklärt sein. Deshalb ist es sehr hilfreich, wenn wir dafür nicht mühsam das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) durchforsten müssen, sondern mögliche Empfehlungen bereits im Abklärungsprozess auf dem Bildschirm aufrufen können.» Dass allfällige Massnahmen auch auf ihre Verhältnismässigkeit überprüft werden, sei ebenfalls ein Vorteil des neuen Systems. Ein weiteres Plus sieht Siegrist darin, dass mit der evidenzbasierten Systematik zuverlässig alle nach wissenschaftlichen Erkenntnissen relevanten Risikomerkmale überprüft werden: «Mit diesem Ablauf können wir sicher sein, dass auch in komplexen Fällen nichts Wichtiges unbeachtet bleibt.»
Siegrist sähe es am liebsten, wenn das neue Instrument auf Kantons- oder Bezirksebene zum Standard erhoben würde und die damit erarbeiteten Resultate von den zuständigen Spruchkörpern direkt als Entscheidungsgrundlage verwendet werden könnten. Denn: «Zum einen hätten wir im Zuge der Abklärung gleich auch den nötigen Bericht erstellt. Zum anderen würde es die Vergleichbarkeit der Fälle sowie die Rechtssicherheit der Betroffenen erhöhen.» In einem Fachseminar wird das neue Abklärungsinstrument nun eingeübt und kann im Anschluss von den Teilnehmenden verwendet werden. Es handelt sich dabei um eine Webapplikation, die den Teilnehmenden und deren Institutionen gegen eine geringe einmalige Lizenzgebühr dauerhaft zur Verfügung steht.
Dieser Artikel ist in der Publikation «Soziale Arbeit», Ausgabe Juni 2015, erschienen.