Sexuelle Selbstbestimmung, soziale Teilhabe und der Schutz der sexuellen Integrität sind allesamt Inhalte der UN-Behindertenrechtskonvention. «Auch wenn es in unserer Gesellschaft gerne tabuisiert wird: Junge Menschen mit Lernschwierigkeiten haben dasselbe Bedürfnis nach Freundschaft, Liebe und Sexualität, wie alle anderen auch», sagt Prof. Daniel Kunz, Dozent und Forscher an der Hochschule Luzern (HSLU). Weiter führt er aus, dass der Zugang zur sexuellen Aufklärung für sie jedoch viel schwieriger ist. Eltern sowie Fachpersonen in Bildung und Betreuung würden sich regelmässig überfordert sehen, beziehungs- und sexualitätsbezogene Themen dieser Zielgruppe angemessen näher zu bringen. Auch ist das vorhandene Material zur Sexualaufklärung für junge Menschen mit Lernschwierigkeiten oft nicht verständlich.
Deshalb hat die HSLU gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) das Projekt «herzfroh 2.0» realisiert. Es handelt sich dabei um eine Weiterentwicklung des erfolgreichen sexualpädagogischen Manuals «herzfroh». Dieses wurde von der HSLU nach dem Tod der Autorin Aiha Zemp übernommen und vertrieben. Die Materialien sind seit 2007 in der Schweiz im Einsatz und 2011 massgeblich an der Aufdeckung des grössten bisher bekanntgewordenen Missbrauchsskandals in Schweizer Heimen beteiligt, weil sie Betroffenen Selbstschutzkompetenzen vermittelt hatten. Mit dem Anschlussprojekt wird diese erfolgreiche Heft-Reihe ins digitale Zeitalter gebracht und inhaltlich für die neue Zielgruppe Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten weiterentwickelt. Sie erhalten damit einen ihren Fähigkeiten entsprechend adäquaten Zugang zur Sexualaufklärung.
Wichtiger Beitrag zur Chancengerechtigkeit
Die neuen Materialien sollen den besonderen Informations- und Unterstützungsbedarf von jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten decken und ins digitale Zeitalter übersetzen. Daher wurden sie partizipativ mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Zielgruppe entwickelt. Die sechs neuen Hefte zu den Themen «Freundschaft und Liebe», «Körper und Pubertät», «Verhütung», «Vielfalt», «Sexualität» und «Grenzen» sind nun auch digital zugänglich. Sie sind in einfacher Sprache verfasst und durch Illustrationen ergänzt, um die Verständlichkeit zu erhöhen. «Die Digitalisierung ermöglicht der Zielgruppe einen niederschwelligen Zugang zum Aufklärungsmaterial», fasst Kunz zusammen. «Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur gesundheitlichen Chancengerechtigkeit und sozialen Teilhabe von jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten», so der Projektleiter.
Digitales Spiel hilft beim Unterscheiden zwischen Liebe und Freundschaft
Wichtiger Bestandteil der neuen Materialien ist ein narratives Serious Game, das von Forschenden des HSLU-Departements Informatik entwickelt wurde. Spielende übernehmen darin Kontrolle über Protagonisten, die mit KI-Charakteren interagieren. Je nachdem, welche Entscheidungen die Spielenden treffen, bleibt es bei einer Freundschaft oder kommt zu es zu einer Liebesbeziehung. Das Spiel vermittelt, wie eine Beziehung gestaltet werden kann oder zu erkennen ist, ob eine andere Person einen attraktiv findet. «Im weitesten Sinne geht es darum, zwischen Freundschaft und Liebe unterscheiden zu können und im engeren Sinne darum, zu erkennen, was einvernehmliches Handeln ist», fasst Daniel Kunz zusammen.
«herzfroh 2.0»
Die Materialien von «herzfroh 2.0» sind barrierefrei gestaltet und auf herzfroh-online.ch abrufbar, sowie auf loveline.de integriert. Das Projekt wurde von den Interdisziplinären Themencluster (ITC) der HSLU unterstützt.
Menschen mit Lernschwierigkeiten
Die Zielgruppe von «herzfroh 2.0» sind Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten, die in Ablehnung der als diskriminierend empfundenen Begriffe «geistige Behinderung» und «Lernbehinderung» für sich selbst die Bezeichnung «Menschen mit Lernschwierigkeiten» benutzen. Diesen Begriff haben die Materialien als angemessene Adressierung an die Zielgruppe übernommen.