Aussagen von Kindern können für Strafverfahren richtungsweisend sein. Gerade Kinder sind jedoch in Befragungssituationen besonders vulnerabel, was ein hohes Mass an Sorgfalt und eine entsprechende Qualifizierung der befragenden Personen erfordert. Diese Qualifizierung erfolgt seit vielen Jahren im Rahmen einer Weiterbildung an der Hochschule Luzern (HSLU). Es mangelt aber bisher an realitätsnahen Übungsmöglichkeiten für Fachpersonen aus Justiz und Polizei – eine Lücke, die ein interdisziplinäres Team der Departemente Informatik und Soziale Arbeit der HSLU sowie der ZHAW School of Engineering schliessen will.
Kinder leicht beeinflussbar
«Kinder lassen sich schnell von Erwachsenen beeinflussen; besonders durch Autoritätspersonen wie eine Polizistin oder einen Staatsanwalt», weiss die Projektleiterin und HSLU-Professorin Susanna Niehaus. Schlimmstenfalls führe dies zu Scheinerinnerungen: Das sind echt wirkende Erinnerungen an Dinge, die das Kind aber nie erlebt hat. Sie können nicht nur in einem Fehlurteil münden, sondern auch fatale Konsequenzen für die Kinder selbst haben. «Scheinerinnerungen können erhebliche Traumafolgestörungen verursachen und zum Abbruch wichtiger Beziehungen führen», so die Rechtspsychologin.
Trainieren am Computer
Die von Expertinnen und Experten aus Rechtspsychologie, Informatik, Game Design, Animation und Computerlinguistik entwickelte Trainingssoftware soll für Ermittlerinnen und Ermittler ein möglichst realistisches Übungsszenario schaffen. Denn das Trainieren mit echten Kindern ist aus ethischen Gründen nicht möglich. Trainiert wird daher mit «Virtual Kids» - so der passende Name des Projekts. Via Computer befragt man kindliche Charaktere, die mit einem eigenen «Erlebnisgedächtnis» ausgestattet sind. Je nach Inhalt und Art der Fragestellung gibt eine KI unterschiedliche Antworten. So führen Suggestivfragen auch im Training zu falschen Angaben, die der ursprünglichen Erinnerung der befragten kindlichen Charaktere nicht entsprechen.
KI schaffen, die sich wie ein Kind ausdrückt
Eine KI dafür zu programmieren, war kein einfaches Unterfangen. «Ein fünfjähriges Kind würde keine verschachtelten Sätze und den gleichen Wortschatz wie Erwachsene verwenden», sagt der Experte für Computerlinguistik der ZHAW, Don Tuggener. Das System musste daher zuerst lernen, sich überhaupt wie ein Kind auszudrücken. In einer Befragung spielen aber nicht nur die Antworten eine Rolle, sondern auch die Körpersprache. Deshalb bestand eine zweite Herausforderung darin, den Charakteren als Reaktion auf gewisse Fragen eine entsprechende Mimik zu verpassen; etwa, wenn eine Frage beim Kind Stress oder Angst auslöst.
Trainieren mit «Virtual Kids» (zum Vergrössern klicken): Mit Matteo, einem der virtuellen Charakteren, können Staatsanwälte oder Polizistinnen künftig ihre Befragungstechnik trainieren. Die Sprache wurde hier einem fünfjährigen Kind angepasst. Matteo ist so programmiert, dass gewisse Fragen Stress oder auslösen oder zu sogar zu falschen Erinnerungen führen können. (Bild: HSLU/Raisa Durandi)
Pilotphase in Zusammenarbeit mit Polizei
Die Trainingssoftware wird in einer nächsten Stufe von angehenden Ermittlerinnen und Ermittlern getestet. Im Herbst wird die einjährige Pilotphase beginnen. «Wir erhoffen uns von den systematischen Tests Antworten auf die Fragen, unter welchen Bedingungen sich die grössten Trainingseffekte zeigen und wie sich die Verbesserung der Befragungstechnik dauerhaft aufrechterhalten lässt», sagt Susanna Niehaus. Das Team teste auch, ob die Leute durch das Training mit der Software anschliessend auch echte Kinder besser befragen würden.
So könnten künftig Ermittlerinnen und Ermittler in der ganzen Deutschschweiz mit «Virtual Kids» ihre Befragungstechniken trainieren. Auch ein künftiger Einsatz in deutschsprachigen Nachbarländern schliesst das Projektteam nicht aus – oder gar, den Charakteren weitere Sprachen beizubringen.