In der Schweiz existiert grundsätzlich ein vielfältiges und professionelles System der Suchthilfe. Doch nicht allen Betroffenen stehen dieselben Hilfsangebote zur Verfügung. Da die Zuständigkeiten bei den Kantonen und Gemeinden liegen, gestaltet sich die Suchthilfelandschaft entsprechend fragmentiert. Dies zeigt eine Studie der Hochschule Luzern (HSLU) im Auftrag der Konferenz der kantonalen Beauftragten für Suchtfragen (KKBS) und mit Unterstützung des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Erstmals wurden die Strukturen und Angebote der Suchthilfe von 22 Kantonen verglichen.
Grosse Kantonale und regionale Unterschiede
«Die kantonalen und regionalen Unterschiede in der Angebotslandschaft sind beträchtlich», sagt Studienleiter Prof. Dr. Jürgen Stremlow. «In welchem Kanton oder gar welcher Gemeinde eine suchtbetroffene Person lebt, hat einen massgebenden Einfluss darauf, welche Angebote verfügbar sind», so der HSLU-Dozent. So würden Kantone der Westschweiz mehrheitlich über eine umfassende Angebotspalette verfügen; allerdings sei die Nutzung der Angebote in der Romandie weniger miteinander vernetzt. In der Deutschschweiz existieren deutlichere Unterschiede zwischen den Kantonen; gleichzeitig besteht eine grössere Vernetzung verschiedener Kantone untereinander. Und genau eine solche interkantonale Vernetzung kann dabei helfen, Angebotslücken zu füllen.
Ein Beispiel dafür ist die Zentralschweiz: Die Kantone Zug und vor allem Luzern verfügen über eine umfangreiche Angebotspalette, die fast alle Bereiche abdeckt, während in Obwalden, Nidwalden, Schwyz und Uri eine Grundversorgung besteht. Trotzdem sind für Suchtbetroffene durch interkantonale Verträge auch Angebote in Luzern und Zug zugänglich, wie beispielsweise der Konsumraum der Gassenküche in Luzern.
Die kantonalen Unterschiede seien gemäss Stremlow nicht per se schlecht. «Sie erlauben, die Angebote den lokalen Gegebenheiten besser anzupassen und die Ressourcen effizient einzusetzen», sagt der Studienleiter. Das setze aber voraus, dass die Zusammenarbeit zwischen den Leistungsanbietern und den Kantonen systematisch evaluiert und die Planung der Angebote regelmässig aktualisiert wird. Angesichts verschiedener hoch spezialisierter Angebote empfiehlt die Studie generell eine Verstärkung der Zusammenarbeit der Kantone in Versorgungsregionen.
Strukturelle Benachteiligungen sind möglich
Fehlen bestimmte Angebote oder die Möglichkeit, diese in benachbarten Kantonen zu beziehen, entsteht eine Benachteiligung für die Suchtbetroffenen. Diese ergibt sich aber nicht nur aufgrund der zur Verfügung stehenden Angebote, sondern auch aufgrund der Zugänglichkeit. So können etwa Minderjährige in der Regel keine Angebote der Schadensminderung (z.B. Drug-Checking) nutzen, obwohl beispielsweise ein beträchtlicher Anteil von Cannabis-Konsumierenden minderjährig ist. Oder die ambulante Suchtberatungsstelle: Vielerorts ist sie an den Wohnort gebunden. Die Suchtberatungsstelle einer Nachbarsgemeinde zu nutzen, ist dann nicht möglich. In kleineren Gemeinden mit weniger Anonymität kann dies Betroffene davon abhalten, das Angebot zu nutzen.
Verlagerungstendenz in die Krankenkasse
Kritisch sieht Stremlow auch, dass in der Deutschschweiz seit einiger Zeit die Tendenz besteht, dass Kantone und Gemeinden stationäre Therapieangebote vermehrt an suchtmedizinische Einrichtungen delegieren (Finanzierung über die Krankenkassen) und die sozialtherapeutischen Angebote (Finanzierung durch Kanton und Gemeinden) weniger berücksichtigen als früher. Gemeinden würden dadurch zwar finanziell entlastet – die Kosten würden jedoch auf die Prämienzahlenden abgewälzt. Und für die Betroffenen kann eine Therapie in einer suchtmedizinischen Einrichtung mit längeren Wartezeiten und kürzerer Behandlungsdauer einher gehen. «Diese Entwicklungen widersprechen internationalen Qualitätsstandards, wonach bei einem Behandlungsplan nicht ökonomische Überlegungen im Zentrum stehen dürfen, sondern der Behandlungsbedarf», so der HSLU-Dozent.
Lücken sollen geschlossen werden
Die KKBS ist zurzeit daran, die Umsetzung ausgewählter Empfehlungen der Studie zu prüfen. «Aus fachlicher Sicht ist langfristig anzustreben, dass schweizweit jeder Person ein gleichwertiges Beratungs- und Behandlungsangebot zur Verfügung steht», sagt Joos Tarnutzer, Präsident der KKBS. Mit der umfassenden Untersuchung in 22 Kantonen besteht erstmals die Grundlage, bestimmte Lücken genauer zu identifizieren. Grundsätzlich sieht Tarnutzer Bedarf bei der Verbesserung des nationalen Suchtmonitorings und einer optimierten interkantonalen Koordination in Versorgungsregionen. Bis Anfang 2024 soll eine Roadmap entstehen.
Für Stremlow ist das ein gutes Signal. Es zeige, dass den Kantonen die Herausforderungen bewusst sind. «Sucht ist ein komplexes Querschnittsthema. Die Studie liefert Ansatzpunkte, um das System der Suchthilfe für die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen fit zu machen.»
Studie «Grundlagen für die Steuerung im Bereich der Suchthilfe»
In 22 Kantonen fanden von Oktober 2021 bis April 2022 Erhebungen zum Angebot, den Angebotsbeständen und der Nutzung im Fokusbereich «Beratung, Therapie, und Wohnen», der Steuerung sowie zu den Entwicklungstrends in der Suchthilfe statt. Die Kantone Appenzell-Innerrhoden, Genf, Glarus und Tessin beteiligten sich nicht an dieser Studie. Die Erhebung umfasste: schriftliche Befragungen und Telefoninterviews bei 22 kantonalen Beauftragten für Suchtfragen bzw. deren Vertretungen; eine schriftliche Befragung von 189 leistungserbringenden Organisationen mit 301 Fragebögen (Rücklaufquote: 86 Prozent); eine Sekundäranalyse der medizinischen Statistik der Krankenhäuser durch das schweizerische Gesundheitsobservatorium (OBSAN); 20 Fokusgruppen-Interviews mit insgesamt 181 Expertinnen und Experten der kantonalen Suchthilfesysteme. Die Analysen wurden in separaten Kantonsportraits aufbereitet. Sie bilden die empirische Grundlage dieses Berichts.
Die Studie und Kantonsporträts finden Sie hier.