«Wenn ich traurig bin, höre ich keine Musik», sagt der 17-jährige Abdirabi A. aus Somalia, der seit sechs Monaten in der Schweiz lebt. Vernimmt der 22-jährige Tesfahiwet A. die Kirchenglocken Luzerns, dann erinnert ihn das an die hellen Klänge der met’qi‘e, den traditionellen «Glocken» aus Stein, die in seinem Heimatdorf in Eritrea zum Gebet rufen. «Die Hunde bellen hier anders als bei uns zu Hause», sagt der 21-jährige Michael O. aus Eritrea.
Die drei jungen Leute gehören zu insgesamt 13 Jugendlichen und Erwachsenen, die von Februar bis April an mehrtägigen Workshops zum Thema «Hören» teilgenommen haben. Die Jüngeren unter ihnen besuchten einen Workshop an der Hochschule Luzern, die etwas Älteren im Rahmen eines freiwilligen Konversationskurses in Deutsch. Organisiert wurden die Workshops von «Ohren auf Reisen», einem Projekt der Basler Bildungs- und Kulturinitiative Zuhören Schweiz. Durchgeführt wurden sie von einem HSLU-Forschungsteam und dem Luzerner Lokalsender Radio 3FACH.
Auseinandersetzung mit der klingenden Umwelt
«Ziel der Workshops war es, die eigene Hörgeschichte zu erkunden und aufzunehmen», erklärt Helena Simonett, Leiterin des HSLU-Forschungsprojekts «Music as Empowerment». In diesem mehrjährigen SNF-Projekt geht ein Forschungsteam der Frage nach, wie sich junge Menschen mit Migrationsgeschichte mittels musikbezogener Tätigkeiten und persönlicher musikalischer Kompetenzen neue kulturelle Räume erschaffen und neue soziale Identitäten konstruieren (siehe Kasten).
Bei ihren Recherchen stiess die Ethnomusikologin auf das Projekt «Ohren auf Reisen» und war sofort angetan: «Die Idee der praktischen Auseinandersetzung mit der klingenden Umwelt – der neuen und der zurückgelassenen – hat mich sofort begeistert», sagt Simonett. «Denn das Hören, das Zuhören und das Gehört werden bilden die Grundlage für die kulturelle Teilhabe und Teilnahme dieser jungen Menschen an unserer Gesellschaft.»
Zum «Empowerment» gehört aber nicht nur, dass die Jugendlichen während des Workshops Erfolgserlebnisse haben und diese gewürdigt werden, etwa wenn sie ihre Sprachkenntnisse erweitern und ihre Stärken entdecken. «Es geht auch darum, dass die Jugendlichen neue kreative Kompetenzen erlernen», hält das Forschungsteam fest. So erfahren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie man mit Handy und Zusatzmikrofon gute Audio-Aufnahmen macht, mit welchen einfach zu bedienenden Tools man diese schneidet und mischt, und wo sich weitere Geräusche und Musik in Online-Archiven finden und nutzen lassen.
Öffentliche Hörausstellung und Radioübertragung
In den Workshops wurden die Teilnehmenden gefragt, welche Klänge sie dort begleiten, wo sie leben; was ihnen akustisch an ihrer neuen Umgebung in der Schweiz auffällt; an welche Klänge sie sich erinnern oder wie Geräusche ihre Vertrautheit mit einem Ort beeinflussen. «So entstanden faszinierende Hörbeiträge, die uns persönliche Einblicke in das Leben und die akustische Umwelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen geben», so Simonett.
Zwölf Audio-Collagen der jungen Frauen und Männer aus Somalia, Eritrea, Afghanistan und Syrien werden vom 27. Mai bis zum 5. August 2022 in der Hörausstellung «Ohren auf Reisen» am Departement Musik der Hochschule Luzern präsentiert. Der Eintritt ist frei zugänglich während der regulären Öffnungszeiten des Gebäudes. Die «Midissage», geleitet von Radio 3FACH-Moderator Matthias Büeler, findet am Donnerstag, 7. Juli 2022 von 14:00 bis 15:30 Uhr statt. Dabei wird auch ein kurzer Dokumentarfilm des afghanischen Filmemachers Ahmad Alizada gezeigt, der das Projekt begleitet hat.
Am Samstagnachmittag, 28. Mai 2022 von 13:00 bis 15:00 Uhr strahlt Radio 3FACH eine Sendung über das Projekt aus. Ab August 2022 können die Hörbeiträge zudem über die Website von «Ohren auf Reisen» erkundet werden: zuhoeren-schweiz.ch/oar
Forschungsprojekt «Music as Empowerment»
Im Zentrum des interdisziplinären Projekts (Laufzeit: 2021 bis 2025) stehen junge geflüchtete Menschen und die Art und Weise, wie sie sich mittels musikbezogener Tätigkeiten und persönlicher musikalischer Kompetenzen («musical literacies») sowohl neue kulturelle Räume erschaffen als auch neue soziale Identitäten konstruieren. Es wird erforscht, wie sich diese Prozesse auf verschiedene Aspekte ihres Lebens, wie z.B. den Zugang zu Bildung und Freizeitaktivitäten, auswirken. Das Projekt wird im Rahmen des Interdisziplinären Themenclusters «Raum und Gesellschaft» der Hochschule Luzern von Forschenden der Departemente Musik und Soziale Arbeit durchgeführt und vom Schweizerischen Nationalfonds SNF gefördert.
Im Rahmen des Projektes entstand die Hörausstellung «Ohren auf Reisen», zusammen mit dem Verein Zuhören Schweiz und Radio 3FACH.