Seit 2009 entsteht in Andermatt im Kanton Uri auf Initiative des ägyptischen Investors Samih Sawiris ein Tourismusresort. Das Grossprojekt umfasst den Bau von sechs Hotels im 4- und 5-Sterne-Bereich, rund 500 Apartments in 42 Häusern, 28 Privatvillen, Kongressräumlichkeiten sowie ein 18-Loch-Golfplatz – rund ein Drittel der Hotelbauten und Appartementshäuser wurde bereits erstellt. Das Resort wird in den kommenden Jahren nochmals beträchtlich wachsen. Zusätzlich wurde das Skigebiet Andermatt-Sedrun modernisiert und ausgebaut.
Ein solch umfassendes Tourismusprojekt bringt für ein Dorf wie Andermatt weitreichende soziokulturelle und sozioökonomische Veränderungen mit sich, die für die Bevölkerung sowohl Chancen als auch Herausforderungen bieten. Die Hochschule Luzern hat mit einer Langzeit- und Begleitstudie untersucht, welche kurz- und langfristigen Folgen der Bau des Tourismusresorts auf die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Gemeinde und auch über die Gemeindegrenze hinaus hat. Jetzt liegen die Resultate der vierten und letzten Teilstudie vor.
Räumlich in zwei Dorfteile getrennt
Interviews mit den Einwohnerinnen und Einwohnern, die im Rahmen der Langzeitstudie durchgeführt wurden, haben gezeigt: In der Bevölkerung ist teilweise eine Verunsicherung spürbar. «Etliche Einwohnerinnen und Einwohner befürchten eine Verdrängung der einheimischen Bevölkerung oder andere negativen Folgen», sagt Beatrice Durrer Eggerschwiler, Projektleiterin und Dozentin für soziokulturelle Entwicklung an der Hochschule Luzern.
Das Dorfbild und die Zusammensetzung der Leute, die auf den Strassen unterwegs sind, haben sich in den letzten zehn Jahren spürbar verändert.
Bereits jetzt sei augenfällig, dass Andermatt zumindest räumlich in zwei unterschiedliche Teile unterteilt wird: In den alten Dorfkern und in das Feriendorf Andermatt Reuss. Diese räumliche Abgrenzung könne sich laut der Studienautorin auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Das Dorfbild und die Zusammensetzung der Leute, die auf den Strassen unterwegs sind, haben sich in den letzten zehn Jahren spürbar verändert. In den Interviews sei die Sorge genannt worden, dass sich in Andermatt eine gewisse Parallelwelt entwickeln könnte, der sich viele nicht zugehörig fühlen.
Neue Freizeit- und Kulturangebote
Die Entwicklung des Tourismusresorts bringt für die Bevölkerung auch Vorteile mit sich. So werden die Modernisierung und Erweiterung des Skigebiets von den Einwohnerinnen und Einwohnern als durchwegs positiv betrachtet. Auch kann die Bevölkerung von vielen Neuerungen im Dorf profitieren – beispielsweise vom öffentlich zugänglichen Schwimmbad, von neuen Wander- und Bikewegen oder vom neu belebten Kultur- und Freizeitangebot. Die Investitionen hätten in Andermatt eine Entwicklung ermöglicht, die nach dem Weggang der Schweizer Armee sonst nicht realisierbar gewesen wäre, ist sich Hans Regli, Gemeindepräsident von Andermatt, sicher: «Nicht nur das Tourismusresort entwickelt sich, sondern auch im alten Dorfteil sind zahlreiche Sanierungsprojekte entstanden. Es konnten Arbeitsplätze gesichert und zusätzliche Lehrestellen geschaffen werden.»
Deutliche Zunahme der Miet- und Immobilienpreise
Der Wandel manifestiert sich insbesondere auch in sozioökonomischen Gesichtspunkten. So haben die Preise im Einfamilienhausmarkt in Andermatt in den letzten vierzehn Jahren, also seit der Bekanntgabe des Resort-Projekts, um 270 bis über 500 Prozent zugenommen. Gesamtschweizerisch lag der Preisanstieg im gleichen Zeitraum bei 44 Prozent. Auch die Preise für Eigentumswohnungen haben sich in Andermatt im gesamtschweizerischen Vergleich überdurchschnittlich entwickelt. In diesem Segment waren vor allem ab 2013 starke Anstiege sichtbar. So lässt sich bei den Eigentumswohnungen eine Preissteigerung von bis zu 200 Prozent feststellen. «In der vierten Teilstudie zeigt sich: Wer in Andermatt eine Wohnung mieten möchte, braucht dafür mittlerweile ein grösseres Budget», sagt Hannes Egli, Dozent für Regionalökonomie an der Hochschule Luzern und bei der Studie für die Untersuchung der sozioökonomischen Veränderungen verantwortlich. Seit 2010 sind die Wohnungen in Andermatt insgesamt um etwa 45-50 Prozent teurer geworden, wobei die Preise vor allem ab 2017 gestiegen sind.
Resort zieht neue Einwohnerinnen und Einwohner an
Trotz höherer Wohnkosten wächst die Bevölkerung von Andermatt. Die mittlere ständige Wohnbevölkerung der Gemeinde ist von rund 1'260 im Jahr 2009 auf gut 1'410 im Jahr 2019 angestiegen – das entspricht einem Wachstum von knapp elf Prozent in zehn Jahren. Auch die Kantonssteuereinnahmen auf Ebene der Gemeinde sind gestiegen – zwischen 2009 und 2019 haben sie sich fast verdoppelt. «Der Zuwachs deutet darauf hin, dass neben neuen Zweitwohnungsbesitzerinnen und -besitzern auch mehr Personen permanent nach Andermatt ziehen», so Hannes Egli. Die neuen Arbeitsplätze, welche im und um das Resort geschaffen werden, tragen dazu bei.
Immer mehr Touristinnen und Touristen übernachten in Andermatt: 2009 betrug die Anzahl Logiernächte 73'000, zehn Jahre später waren es über 129'000.
Ein Indikator für die rasante touristische Entwicklung des Dorfes ist die Zunahme der Logiernächte. Insbesondere ab dem Jahr 2013, in dem das Hotel Chedi eröffnet wurde, zeigt sich deutlich: Immer mehr Touristinnen und Touristen übernachten in Andermatt. Während die Anzahl Übernachtungen im Jahr 2009 noch etwas mehr als 73'000 betrug, konnten 2018 erstmals mehr als 100'000 Übernachtungen gezählt werden. 2019 waren es bereits über 129'000 Logiernächte. Die Anzahl der verfügbaren Betten ist von gut 600 im Jahr 2009 auf rund 900 im Jahr 2019 angestiegen. Wie sich die Corona-Pandemie auf die weitere Entwicklung der Logiernächte auswirkt, wird sich erst noch zeigen.
Bevölkerung blickt positiv in Zukunft
Die Haltung gegenüber dem Tourismusresort hat sich in der Bevölkerung seit Projektbeginn stark verändert. «In den letzten Jahren hat sich unter den Einwohnerinnen und Einwohnern eine Gruppe gebildet, die sich in die Entwicklung des Dorfes hin zu einem attraktiven Lebensort einbringen will», so Beatrice Durrer Eggerschwiler. Viele Einwohnerinnen und Einwohner blicken derweil auch positiv in die Zukunft und sehen beim Resort mehr Chancen als Nachteile. Das bestätigt auch Karin Christen, selber wohnhaft in Andermatt und Teil der Begleitgruppe der BESTandermatt-Studie. Sie sieht im Tourismusresort ganz klar eine Chance für die Gemeinde. Andermatt könne von einem noch attraktiveren Wohn- und Lebensraum profitieren. «Wenn wir es verstehen, die neu geschaffenen Ressourcen mit Weitsicht zu nutzen, kann dies für Andermatt eine grosse Chance für die Zukunft sein», so Christen. Geht es nach den Studienautorinnen und Studienautoren, ist der Einbezug der Bevölkerung und anderen Akteurinnen und Akteuren ein Schlüssel für den positiven Verlauf der weiteren Gemeinde- und Tourismusentwicklung. Das HSLU-Forschungsteam hat im Rahmen der Studie einen Katalog mit möglichen Massnahmen erstellt. Die Empfehlungen sollen der Gemeinde Andermatt, dem Kanton Uri sowie der Andermatt Swiss Alps, die für den Bau und Betrieb des Tourismusresorts in Andermatt zuständig ist, helfen, die Einwohnerinnen und Einwohner in die weitere Entwicklung von Andermatt zu integrieren.
Studie «BESTandermatt»
Mit der Realisierung des Tourismusresorts verändert sich das Dorf Andermatt und die ganze Region massgeblich. Die kurz- und langfristigen Folgen des Grossprojektes auf die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Standortgemeinde Andermatt sind schwer vorhersehbar. Die Departemente Soziale Arbeit und Wirtschaft der Hochschule Luzern haben zwischen 2009 und 2020 eine Langzeit- und Begleitstudie in vier Teilstudien durchgeführt. Jetzt liegen die Resultate der vierten Teilstudie vor. Darin hat das HSLU-Forschungsteam zwischen 2019 und 2020 die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Auswirkungen des Resorts erforscht und darauf aufbauend Vorschläge für die Realisierung von Massnahmen formuliert. Das Projekt wurde durch das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, den Kanton Uri, die Gemeinde Andermatt sowie Forschungsmittel der Hochschule Luzern finanziert.
Im Sommer 2021 wird im Rahmen der BESTandermatt-Studie ein Gesamtbericht veröffentlicht. Im Gesamtbericht werden anhand theoretischer Modelle am Beispiel der Erkenntnisse aus den vier Teilstudien die soziokulturellen Veränderungen in der Bevölkerung, die durch den Bau eines solchen Tourismusresorts entstehen, verortet. Daraus folgend werden auf andere Destinationen adaptierbare Handlungsempfehlungen formuliert, die von Gemeinden und Regionen genutzt werden können, um ein Gleichgewicht zwischen touristischer Entwicklung und den Ansprüchen der Bevölkerung zu finden.
Weitere Informationen zur BESTandermatt-Studie gibt es HIER.