Die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet jene Länder, welche sie ratifiziert haben, Kinder vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung zu schützen. Die Staaten sind auch dazu angehalten, Daten zur Verbreitung von Kindesmisshandlung zu sammeln und auszuwerten. Die Schweiz, die die Konvention 1997 unterzeichnet hat, kann letzteres nicht erfüllen: Es fehlen insbesondere verlässliche Zahlen, wie viele Kinder im Land körperliche oder psychische Misshandlung sowie Vernachlässigung erfahren. Und es gibt keine vollständigen Statistiken, wie viele dieser Kinder von dafür zuständigen Institutionen und Organisationen betreut und in welcher Form sie betreut werden.
«Die Folge davon ist, dass die Schweiz keine befriedigende Antwort hat auf die Fragen: Wie gut sind wir darin, Misshandlung von Kindern zu verhindern, zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren? Ist die Versorgung und Betreuung genügend, wo müssen wir handeln?», sagt Andreas Jud vom Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. Diese Wissenslücke der Schweiz hat die UNO im Rechenschaftsbericht zur Kinderrechtskonvention angemahnt.
Aussagekräftige Zahlen helfen im Kampf gegen Misshandlung
Die Schweiz steht mit dem Problem nicht alleine da. Weltweit fehlt es in vielen Ländern an umfassenden Erhebungen über die Betreuung und den Schutz von misshandelten Kindern. Denn entsprechende Studien zu verfassen ist ein komplexes Unterfangen.
Um Forschende in verschiedenen Staaten bei dieser Aufgabe zu unterstützen, haben das Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern, die Weltgesundheitsorganisation WHO und die University of New Hampshire eine Anleitung herausgegeben. Diese beschreibt Methoden und Strategien, um umfangreiche nationale und regionale Studien über die Verbreitung und Betreuung von misshandelten Kindern durchzuführen. Die Anleitung, auch Toolkit (Werkzeugkasten) genannt, richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Entscheidungsträger auf der ganzen Welt.
«Ziel ist, dass vermehrt Untersuchungen im Bereich Kindesmisshandlung betrieben und Wissenslücken geschlossen werden sowie die Aussagekraft der Studien erhöht wird», sagt Andreas Jud. Die Studien sollen den Staaten auch im Kampf gegen Kindesmisshandlung helfen. «Um den Schutz von Mädchen und Buben verbessern, präventive Programme gezielter einsetzen, effektiver intervenieren und die diversen Angebote koordinieren zu können, braucht es eine umfassende Grundlage an Informationen und Zahlen», sagt Jud.
Es gibt Daten, aber keine Gesamtschau
Ganz im Dunkeln tappen die Schweiz und andere Staaten zwar nicht. So weisen hierzulande die Kriminalstatistiken der Polizei Straftaten gegen die sexuelle Integrität von Kindern aus. «Fälle von psychischer Misshandlung oder Vernachlässigung scheinen hier aber nicht oder nicht explizit auf», sagt Jud. Einen Anhaltspunkt dazu liefert die Nationale Kinderschutzstatistik der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie, für die Daten von Schweizer Kinderkliniken zusammengetragen werden. Die Statistik der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES wiederum listet alle Schutzmassnahmen auf, die in einem bestimmten Jahr für Kinder getroffen wurden; sie legt aber nicht dar, ob diese Massnahmen für misshandelte oder anderweitig gefährdete Kinder errichtet wurden.
Aber keine Studie führt all diese Erkenntnisse zusammen und macht die Verbindung beispielsweise von Art der Misshandlung, ergriffener Massnahme, Dauer der Massnahme und verantwortlicher Organisation sichtbar», fasst Jud zusammen. «Keine Studie zeichnet ein Gesamtbild zur Kindesmisshandlung in der Schweiz.» Dafür müsste nebst einer genauen Erhebung der Fallzahlen unter anderem auch untersucht werden, wer die Misshandlung zuerst erkannt und wer sie gemeldet hat. Zu klären wäre zudem, welche Institution reagiert hat und welche Organisation für die Umsetzung der getroffenen Schutzmassnahmen verantwortlich war.
Eine Herausforderung ist das Sammeln der Daten
Damit eine umfassende Studie gelingt und eine Gesamtschau hergestellt werden kann, sollten möglichst alle im Kindesschutz aktiven Einrichtungen und Behörden involviert werden: von den Institutionen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen (z.B. Schulen, Familienberatungsstellen, Opferhilfestellen, Kinderschutzgruppen an Spitälern) über die zivilrechtlichen Kindesschutzorganisationen (z.B. Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) bis zu den strafrechtlichen Organe (z.B. Untersuchungsbehörden; Jugendstrafverfolgungsbehörden). «Die verschiedenen Institutionen ins Boot zu holen, ist die erste grosse Hürde, die Forschungsteams nehmen müssen», sagt Andreas Jud. Deshalb liefert das herausgegebene Toolkit auch Tipps und Tricks dafür.
Die Anleitung «Toolkit on mapping legal, health and social services responses to child maltreatment» zur Erstellung umfassender Studien bezüglich Kindesmisshandlung kann kostenlos auf der Projektseite der Hochschule Luzern oder unter www.who.int/violenceprevention/en heruntergeladen werden (in Englisch).