Auch Zukunftsforschende wissen nicht, was die Zukunft bringt. Aber sie haben Methoden, um Aussagen treffen zu können. Viele dieser Methoden, wie beispielsweise die quantitative Befragung, haben allerdings den Nachteil, dass man mit ihnen nur Optionen abfragen kann, die die Fragenden für möglich halten. Um zu erfahren, was sich die Befragten selbst vorstellen könnten, gibt es eine Methode, die ein wenig nach Zauberei klingt, aber wissenschaftlich anerkannt ist. Sie fragt das sogenannte implizite, selbst-transzendente Wissen ab, indem sie Menschen unter Zeitdruck ihre Gedanken zu einem bestimmten Thema in Form von Geschichten aufschreiben lässt. Weil die Schreibenden in fünf, meist sogar nur drei Minuten nicht die Zeit haben, sich komplizierte Szenarien auszudenken, schreiben sie einfach los – und kommen in diesen Flash-Fiction-Stories oft auf Ideen, die überraschen. «Alle Menschen haben dieses Wissen in sich», erklärt Patricia Wolf, «manche kommen besser daran als andere.»
Patricia Wolf, Leiterin des Zukunftslabors CreaLab der Hochschule Luzern, hat in vier Workshops 84 Teilnehmende mit unterschiedlichem beruflichem und sozialem Hintergrund 221 Geschichten darüber schreiben lassen, wie sie sich Mobilität in Arbeit und Freizeit im Jahr 2057 vorstellen. Die Teilnehmenden kamen aus allen Altersschichten, waren angestellt oder selbständig, manche waren Unternehmer, andere hatten mehrere Arbeitgeber. Für die vom SBB Forschungsfonds finanzierte Studie «Zukünftige Mobilitätsbedürfnisse der erwerbstätigen Bevölkerung» haben die Forschenden die Geschichten ausgewertet und in vier Szenarien zusammengefasst (siehe unten):
– Zentrale Aufgabenteilung und Überwachung
– Der Ausstieg: Emanzipation von digitalen Helfern
– Komplett mobiles Leben und Arbeiten
– Leben in der Virtualität: Freie Auftragsarbeit und seltene physische Treffen
Aber was bedeutet das für Unternehmen wie die SBB? «Sie müssen sich mit allen Szenarien auseinandersetzen. Es kann in jede Richtung gehen», sagt Patricia Wolf. Im Bahnhof Bern hat die SBB bereits flexible Arbeitsplätze geschaffen, die für jeden offenstehen. Das sei der richtige Weg, sagt Wolf. «Wer die Zukunft gestalten will, muss in Szenarien denken und kann damit bereits heute die Weichen für morgen stellen.»
Das Buch Zukunftsgeschichten; Band 2 Mobilitätswelten 2057 ist hier erhältlich.
Autorin: Valeria Heintges
Illustrationen: Till Lauer
Szenario 1
Beängstigend ist Szenario 1, in dem die Menschen nur Arbeit erledigen, die sie zugeteilt bekommen. Sie sind immer online, überwacht und abhängig von digitalen Helfern, die ihnen sogar vorschreiben, was sie essen sollen. Mobilität findet nur noch selten statt und ist «etwas von anderen Verordnetes, Fremdgesteuertes, teilweise sogar Bedrohliches », fassen die Forschenden zusammen.
Szenario 2
Szenario 2 sieht die «Emanzipation von digitalen Helfern» vor. In einigen Geschichten geschieht dies nach einer Katastrophe. Aussteiger treiben Ackerbau, sind naturverbunden, haben traditionelle Berufe, treffen sich abends vor dem Kamin und bewegen sich zu Fuss oder per Velo. Weit kommen sie nicht, weil sie entweder nicht wollen oder nach der Katastrophe nicht mehr können.
Szenario 3
In Szenario 3 leben und reisen die Menschen in mobilen Boxen, die mit dem Zug oder der Drohne transportiert werden oder sich selbst bewegen. «Bewegung ist in diesem Szenario das Normale, Stillstand die Ausnahme», schreiben die Autorinnen und Autoren des Buchs «Zukunftsgeschichten ». In manchen Geschichten haben die Menschen fast kein Eigentum mehr, im Extremfall nur noch einen Anzug. Die Ungebundenheit bietet maximale Freiheit, wirkt aber auch beängstigend, weil Begriffe wie Heimat keine Rolle mehr spielen und soziale Kontakte kaum noch stattfinden. «Die Idee der Box hat uns völlig überrascht », sagt die Forscherin Wolf, «an die haben wir selbst überhaupt nicht gedacht.»
Szenario 4
In Szenario 4 haben die Menschen einen festen, selbstgewählten Ort, an dem sie leben und arbeiten. Aufträge kommen über Plattformen rein, Treffen finden oft virtuell statt. Gereist wird nur selten und zielgerichtet. «In diesen seltenen Fällen ist Mobilität eine Wahl, die leichtfällt, denn Bewegung ist einfach, konfliktarm, angenehm und schnell», sagt Patricia Wolf. Gelebt wird weitgehend selbstbestimmt, fraglich ist jedoch, wie es menschliche Beziehungen beeinflusst, wenn sie weitgehend virtuell stattfinden.