Wenn Kinder missbraucht werden, sind sie fast immer mit dem Täter allein, und es gibt keine Zeugen. Wenn dem Verdacht auf Missbrauch nachgegangen wird, kann sich der Täter auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Dann liegt es allein an der Aussage des Kindes, ob Anklage erhoben wird oder nicht. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass Kinder so befragt werden, dass ihre Aussage vor Gericht Bestand hat und sie durch die Einvernahme nicht nochmals traumatisiert werden.
Andererseits gab es in der Geschichte der Rechtsprechung viele, auch sehr grosse Fälle, in denen die Befragenden fälschlicherweise davon ausgingen, dass die Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren. Die Befragung zielte nur noch auf die Bestätigung des eigenen Verdachts hin. «Das schadet nicht nur den zu Unrecht Verdächtigten», sagt Susanna Niehaus, «sondern auch dem Kind, das schliesslich in der falschen Überzeugung aufwächst, missbraucht worden zu sein.» Die Psychologin Susanna Niehaus leitet das Kompetenzzentrum Devianz, Gewalt und Opferschutz des Departements Soziale Arbeit der Hochschule Luzern.
Susanna Niehaus hat ihre langjährige Erfahrung in der Befragung von Kindern und ihre wissenschaftliche Forschung zu dem Thema zusammen mit Renate Volbert, Aussagepsychologin wie Niehaus, und dem Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert gut lesbar und praxisnah aufgeschrieben und unter dem Titel «Entwicklungsgerechte Befragung von Kindern in Strafverfahren» veröffentlicht. «Wir wollten einen Leitfaden verfassen, der konkrete praxistaugliche Tipps zur Befragung liefert und zugleich aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aufarbeitet », sagt Susanna Niehaus. Kinder richtig zu befragen, kann man lernen – und viele Leute müssen es lernen. Allein in Zürich werden pro Jahr im Durchschnitt 250 formelle Erstbefragungen von Ermittlern durchgeführt, noch viel höher ist die Zahl informeller Befragungen, die später einmal juristisch relevant werden. So richtet sich das Buch nicht nur an Vernehmungspersonen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht, sondern auch an Berufsgruppen, die oftmals tätig werden, bevor Anzeige erstattet wird: etwa Sozialarbeitende oder Psychologen in Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Beratungsstellen oder psychotherapeutischen Praxen.
Entwicklungspsycholgogische Grundlagen berücksichtigen
Neben allgemeinen Hinweisen, wie eine angstfreie, entspannte Atmosphäre hergestellt werden kann, in der das Kind zu erzählen beginnt, legt Niehaus besonderen Wert auf entwicklungspsychologische Grundlagen, etwa ab welchem Alter ein Kind Ereignisse zeitlich einordnen kann. «Bedenken Sie, dass Kindergartenkinder sagen können, wer was wo getan hat, wann, wie und warum können erst ältere Kinder sinnvoll beantworten», sagt Niehaus. «Und dass jüngere Kinder zeitliche Marker, zum Beispiel gestern, heute oder morgen, häufig falsch verwenden.» Sie weist auch darauf hin, dass jüngere Kinder unangekündigt das Thema wechseln. «So können erhebliche Missverständnisse entstehen, die von Kindern jüngeren Alters nicht korrigiert werden.»
Entwicklungsgerechte Befragung von Kindern im Strafverfahren
Susanna Niehaus, Renate Volbert, Jörg M. Fegert
Springer-Verlag Berlin 2017, 105 S.
Man muss sich bewusst machen: Nur die aussagende Person weiss, was wirklich gewesen ist.
Die Psychologin erklärt, wie ein Gespräch geführt und wie gefragt werden muss. Sie empfiehlt, nie mehr als eine Frage auf einmal zu stellen, Sätze und Fragen kurz und einfach zu halten. Und sie rät strikt ab, die Fantasie anzuregen oder Wahrheit-Lüge-Rituale einzusetzen, auch wenn sich diese oft in entsprechenden Befragungsleitfäden finden. Die Mehrheit sexuell missbrauchter Kinder wird sehr wohl von den Vorfällen zu erzählen beginnen, wenn sie richtig befragt werden. Die Autoren spielen eine Befragung komplett durch, sodass das Buch sehr gut als Vorbereitung für die Befrager taugt. Sie erklären, warum kein Spielzeug im Raum sein, wie das Gespräch eingeleitet und wie befragt werden sollte: «Regen Sie mit offenen Anstossfragen möglichst viel zu freiem Bericht an.» Doch ist es trotz aller Tipps wichtig, sich auf jedes Kind neu einzulassen. «Jedes ist anders», sagt Niehaus. «Es ist wichtig, individuelle Eigenheiten zu berücksichtigen.» Die Aussage wird noch gewichtiger, wenn man bedenkt, dass die Opfer auch an psychischen Störungen leiden oder intellektuelle Beeinträchtigungen haben können.
Die Psychologin betont, wie wichtig es sei, dass die befragende Person ergebnisoffen in die Gespräche geht. «Das ist das A & O einer gerichtsverwertbaren Befragung», sagt Niehaus. «Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass nur die aussagende Person weiss, was wirklich gewesen ist.» Erst wenn der Befragende ganz bewusst Fragen stellt, die zulassen, dass auch gar nichts passiert oder etwas ganz anderes passiert sein könnte, hat er eine Chance, der Wahrheit ein Stück näherkommen zu können. «Man kann noch so viel über Befragungstechniken lernen», sagt Niehaus, «wer nicht ergebnisoffen befragt, fragt falsch.»
Autorin: Valeria Heintges
Bild: Istockphoto