Sie sind Psychoanalytikerin, gleichzeitig beschäftigen Sie sich sehr damit, wie Menschen wohnen. Was hat das miteinander zu tun?
Auf den ersten Blick gar nichts, aber das Thema Wohnen ist ja was Existenzielles, es dreht sich beides um Räume. Als Psychoanalytikerin rede ich mit den Leuten über ihre inneren Räume, ihre Inneneinrichtung sozusagen. Da kann man eine Parallele sehen.
Kommt daher Ihre Vorliebe für die Psychologie des Wohnens?
Schwer zu sagen. Ich war Einzelkind, viel zu Hause, gerne in meinem Zimmer, meine Mutter legte Wert auf schöne Tapeten und solche Dinge. Obwohl wir in eher einfachen Verhältnissen lebten. Vielleicht ist da etwas hängengeblieben?
Sie schreiben für die Kolumne «Wer wohnt da?» im «NZZ-Folio». Sie stellen anhand von nur drei Fotografien Vermutungen darüber an, wer in einer bestimmten Wohnung leben könnte. Was fasziniert Sie an dieser Aufgabe?
Zum einen das, was alle daran interessiert: Der Schlüssellochblick in fremde Wohnungen, ins Privateste, befriedigt eine urkindliche Neugier. Zum anderen muss ich zu den Fotografien einen Text schreiben – und das kenne ich aus meinem Beruf überhaupt nicht. Ich versuche, die Person auf- und herauszuspüren und eine Geschichte zu schreiben, auf so kleinem Raum ist das recht anspruchsvoll. Aber es macht auch Spass, am Schluss ein fertiges Produkt in die Hand zu bekommen, etwas, das ich in meinem Beruf ja nicht habe.
Wie ist das Gefühl, wenn Sie die Auflösung lesen?
Ich bin immer gespannt. Ich lese sie ja auch erst im gedruckten Heft. Und denke natürlich auch: Habe ich es getroffen oder nicht? Aber das ist nicht das Primäre. Es wäre langweilig, wenn ich immer richtig läge. Ich kann mich auch mal verhauen und gönne dem Leser die Schadenfreude. Und bin manchmal selbst irritiert: Da wohnt eine Familie? Aber warum sehe ich die Kinderspuren in der Wohnung nicht? Manchmal treffe ich es bis auf den Punkt, dann freue ich mich auch.
Ist die Wohnung der Spiegel der Seele?
Ja. Eine Wohnung ist etwas Ur-Privates, etwas Essenzielles, Persönliches. Man hat das Copyright und Carte blanche für alles, was man macht. Viel mehr noch als bei der Kleidung, die etwa den Regeln in einer Firma unterliegt. In der Wohnung können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Sie ist Sicherheit, Geborgenheit, Rückzugsort, Kokon, Wohnhöhle. Sie ist aber auch etwas Beständiges, man wechselt sie nicht wie Winter- und Sommergarderobe, sondern übernimmt vielleicht auch traditionelle Familienmöbel.
Aber manche Wohnungen wirken wie Repräsentationsräume?
Ja, eine Wohnung kann auch Bühne sein, sozialer Ort. In manchen hat man das Gefühl, in einer Galerie oder einem Museum zu stehen. Sie sind toll eingerichtet und gestylt, wirken aber unbeseelt, als Herzeige- und Prestigeort. Da haben sich auch Grenzen des In&Out verschoben. Man ist zu Hause rund um die Uhr mit der Welt vernetzt, und umgekehrt sitzen junge Leute in Cafés wie in ihrer Stube, arbeiten dort stundenlang am Computer. Oder denken Sie an die Wohnungen mit den grossen Glasfronten, die oft keine Vorhänge haben. Da nehmen die Bewohner durchaus in Kauf, dass sie im Schaufenster leben.
Ist das ein Zeichen für Extrovertiertheit?
Das ist schon exhibitionistisch.
Ist es so einfach?
Man kann an der Wohnung durchaus ablesen, ob einer introvertiert oder extrovertiert ist, mehr auf Sicherheit bedacht oder ob es bei ihm keine Rolle spielt, eine feste Bleibe zu haben, ob Leute experimentierfreudiger sind oder eher wertkonservativ. Aber heute kauft man keine Einrichtung mehr fürs Leben.
Wie erklären Sie dann, dass Menschen ihre Einrichtung mit der Mode ändern oder in Wohnungen leben, in denen man kaum einen persönlichen Stil findet?
Das ist Unsicherheit. Es gibt Wohnungen, die sind eingerichtet, sind gewachsen. Und es gibt eingekaufte Wohnungen. Wenn jemand unsicher ist, dann geht er zum Wohnberater oder ins Möbelhaus – je nach Budget – und richtet sich so ein, wie man es im Katalog sieht. Oder er wechselt seinen Geschmack mit der Mode. Dabei passt nicht jedes Design, das angesagt ist, zu einem. In manchen Wohnungen stimmt alles, alles ist richtig, aber man sieht die Bewohner nicht darin. Manchen ist die persönliche Gestaltung ihres Daheims nicht so wichtig. Rationalen Typen vielleicht oder solchen, die draussen sehr viel Leben und Buntheit haben.
Gibt es andersherum eine Wechselwirkung von der Wohnung auf den Menschen?
Ja. Es gibt schlecht gestaltete Räume und schlecht gestaltete Häuser. Schon in manchen Treppenhäusern kann man schlechte Laune bekommen. Und es gibt Menschen, denen es nicht gelingt, sich so einzurichten, dass ihnen wohl ist. Sie kennen ihre Bedürfnisse nicht. Solchen begegne ich in meinem Berufsalltag oft. Viele haben so Über-Ich-hafte Vorstellungen. Eine meiner Patientinnen hätte gerne eine kuschelige Kunstfelldecke gehabt. Sie hat es sich lange verboten, weil man so etwas nicht hat, wenn man jung, emanzipiert und modern ist.
Hilft es Ihnen, die Wohnungseinrichtung eines Patienten zu kennen?
Nein, im Gegenteil, es wurde stören. Wichtig ist das innere Erleben der Patienten, was und wie sie erzählen. Manche erzählen auch von ihren Wohnungen, projizieren auch sehr viel hinein, das Einrichten wird fast schon zum Selbstfindungstrip. In einer langjährigen Analyse war es ein grosses Thema, welches Rot sie für das Zimmer nehmen sollte. Ich dachte: Na, wenn sie das richtige Rot gefunden hat, dann ist die Analyse fertig. Und so war es.
Manche Menschen, die ihr Leben ändern wollen, ändern erst mal die Einrichtung. Hilft das?
Es gibt beides: Es soll etwas passieren, also baut man die Wohnung um, aber es passiert trotzdem nichts. Meistens passiert etwas, weil sich das Leben ändert. Erst gab es bei mir die Studentenbude, dann die WG und dann die Familie, jetzt wohne ich allein – mit dem veränderten Leben ändern sich die Wohnbedürfnisse.
Die Hochschule Luzern bildet Architektinnen und Innenarchitekten aus. Was würden Sie den Studierenden beibringen wollen?
Sie müssen lernen, Menschen zu verstehen, ihre Ideen müssen alltagstauglich sein. Sie sollen nicht ihre eigenen wahnsinnigen Ideen durchsetzen wollen. Stefan Zwicky, der vor Jürg Boner als Innenarchitekt im «NZZ-Folio» die Wohnungen beurteilt hat, hat gesagt: «Der Innenarchitekt soll Steigbügelhalter sein.» Das stimmt. Er soll die Kunden und ihre Bedürfnisse zu spüren versuchen und Hilfestellung geben. Und ihnen nichts aufdrängen, was nicht zu ihnen passt.
Was halten Sie von der Entwicklung «smarter» Wohnungen?
Technikfreaks werden das toll finden. Aber ich möchte nicht, dass mir alles abgenommen wird. Ich will auch drüber nachdenken müssen, welches Licht ich anmache und was ich einkaufen muss. Ich schaue gerne selbst in den Kühlschrank, gehe gerne einkaufen, auch einfach nur schauen. Die Sachen müssen dabei auch mich finden, selbst im Alltag. Für mich ist das nicht verlorene Zeit, sondern Alltagszeit, die nützlich und wichtig ist.
Sie schauen den Leuten recht viel in die Wohnung. Aber Ihre eigene Wohnung ist nirgendwo zu sehen. Ist das Zufall?
Nein. Meine Wohnung ist mein Privatraum. Das hat auch mit meinem Beruf zu tun, denn ich bin für die Patienten auch Projektionsfigur, wie eine weisse Wand, auf die sie ihre Bilder und Phantasien projizieren. Und das soll so bleiben.
Interview: Sigrid Cariola / Valeria Heintges
Bild: Andreas Schwaiger