Gesundheitswesen: Für mehr Qualität
Geht es um die eigene Gesundheit, ist das Beste gerade gut genug. Doch welche Angebote sind die besten? Zwei Politikwissenschaftler der Hochschule Luzern fordern von Versicherern, Ärzten und Spitälern mehr Transparenz, damit Patienten besser entscheiden können.
Die Politologen sehen die Tarifpartner in der Pflicht: auf der einen Seite die Versicherer und auf der anderen die Spitäler und Ärzte. Sie sollen in ihren Tarifverhandlungen nicht nur die Kosten beziehungsweise die Preise von ambulanten und stationären medizinischen Leistungen festlegen, sondern auch die gewünschte Qualität. Konkret geht es darum, gemeinsam zu vereinbaren, wie Qualität definiert und gemessen wird und wie die Resultate ausgetauscht und veröffentlicht, also für die Öffentlichkeit nutzbar gemacht werden. «Mögliche Qualitätskriterien gibt es genügend», sagt Willisegger. Mindestfallzahlen, Rehospitalisationsrate, Infektionsrate, Patientenzufriedenheit, Diagnosequalität…
Eine solide Datengrundlage wäre die Basis für einen stärkeren Qualitätswettbewerb im Gesundheitswesen, sagen die zwei Politologen und entwickelten in ihrer Studie ein entsprechendes Modell dafür, ein sogenanntes Soll-Bild: Dank der transparenten und zugänglichen Informationen ist es für Patientinnen und Patienten möglich, eigenhändig das für ihr medizinisches Anliegen bestqualifizierte Spital zu wählen. Dies führt dazu, dass Spitäler nebst ihrer Auslastung und Kostenstruktur vermehrt auch ihre Leistungsqualität im Auge haben müssen, um mit der Konkurrenz mitzuhalten. In der Konsequenz werden sich einige Institutionen auf bestimmte medizinische Bereiche spezialisieren.
Damit wird eine Entwicklung gefördert, die 2012 mit der neuen Spitalfinanzierung einsetzte, weil diese die Organisationen zu mehr wettbewerblich orientiertem Verhalten anregt. Gleichzeitig setzt die Befähigung der Patienten auch die Versicherer unter Druck: Um ihre Versicherten bei der Stange zu halten, sind die Krankenkassen gezwungen, ein qualitätsorientiertes Angebot zur Verfügung zu stellen.
Emma kann ihre Versicherung zwar nicht kurzfristig wechseln, doch nach der Tumorentfernung und der Strahlentherapie geht sie zu jener Krankenkasse, die Versicherungspartnerin eines qualitätszertifizierten Gesundheitszentrums mit Hausarztmedizin, Gynäkologie und Schwangerschaftsbetreuung ist. Sie möchte künftig auf diese integrierte medizinische Versorgung zurückgreifen können. «Die Stärkung des Qualitätswettbewerbs im Gesundheitswesen soll somit über den Patienten mit seiner Wahl der Leistungserbringer und der Krankenkasse erfolgen», fasst Blatter das Fazit der Studie zusammen.
Lancierung der Schriftenreihe CONCORDIA research
Die zwei Politikwissenschaftler Jonas Willisegger und Hannes Blatter von der Hochschule Luzern haben ihre Erkenntnisse aus der Studie «Preis- und Qualitätswettbewerb im Gesundheitswesen» in der neuen Schriftenreihe CONCORDIA research publiziert. In ihrem Artikel setzen sie sich kritisch und differenziert mit Fragen auseinander wie: Welche Wettbewerbskonzeption verfolgt das Krankenversicherungsgesetz? Inwiefern funktionieren Tarifverhandlungen als Transmissionsriemen des Wettbewerbsdrucks vom Versicherer- zum Leistungserbringermarkt? Welche Voraussetzungen braucht es für ein funktionierendes Zusammenspiel zwischen Preis- und Qualitätswettbewerb?
Die Publikation kann unter www.hslu.ch/oegm unter «Schriftenreihe CONCORDIA research» heruntergeladen werden.
Der Besuch bei der Frauenärztin ist für Emma niederschmetternd. Die Röntgenuntersuchung hat ergeben, dass ein Tumor in ihrer rechten Brust wächst. Die Ärztin überweist sie für die Biopsie ins Spital in der Stadt. Emma ist unsicher, ob sie dort tatsächlich die beste Behandlung bekommt. Doch welches Spital wäre für Brustkrebspatientinnen geeigneter? Welches verfügt über die meiste Erfahrung, hat die besten Spezialisten und behandelt seine Patientinnen am erfolgreichsten?
Eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist nicht einfach. Zwar bieten einzelne Krankenkassen sogenannte Spitalfinder an, mit denen Versicherte sich über verschiedene Qualitätsindikatoren erkundigen und die Institutionen miteinander vergleichen können. Auch Organisationen wie Santésuisse oder H+, die Vereinigung der Spitäler der Schweiz, betreiben einen eigenen Spitalfinder.
All diese Angebote überzeugen die Politikwissenschaftler Jonas Willisegger und Hannes Blatter vom Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR der Hochschule Luzern aber nicht. «Oft ist nicht ganz klar, auf welche Daten sich die Auswertungen stützen», sagt Willisegger. Vielfach würde zudem die Bewertung der Hotellerie, also der Zimmerausstattung oder der Menüauswahl, zu stark gewichtet. «Über die Qualität medizinischer Leistungen fehlen in der Schweiz plausible und objektive Informationen, die für Patientinnen und Patienten, Krankenkassen, aber auch Spitäler und Hausärzte zugänglich sind», hält Blatter fest.
«Die Transparenz über die Qualität medizinischer Leistungen steckt heute noch in den Kinderschuhen», bestätigt Ann-Karin Wicki, Leiterin des Ressorts Kranken- und Unfallversicherung des Schweizerischen Versicherungsverbandes, SVV. Krebspatientin Emma muss sich somit bei der Wahl eines Spitals auf die Empfehlung ihrer Ärztin verlassen.
Tarifpartner sollen auch über Qualität verhandeln
Blatter und Willisegger plädieren dafür, die Informationslücke zu schliessen und damit der Qualität im Schweizer Gesundheitswesen mehr Gewicht zu verleihen. Wie dies gelingen könnte, haben sie im Auftrag des SVV untersucht. «Nicht zuletzt wegen des wachsenden Kostendrucks verstärken sich in der Schweiz die Bemühungen, die Qualität der Leistungserbringung und des Leistungsergebnisses zu verbessern und transparent zu machen», sagt Wicki.
Forschungsschwerpunkt «Öffentliches Gesundheitsmanagement»
Seit 2012 intensiviert die Hochschule Luzern Forschung und Beratung im Bereich «Öffentliches Gesundheitsmanagement». Die Projekte sollen dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung besser zu koordinieren und zu integrieren, die Qualität und Kosteneffizienz zu erhöhen sowie die Prävention zu stärken. Das Forschungsprogramm wird massgeblich durch die Stiftung Kranken- und Unfallkasse Konkordia mitfinanziert, die im Herbst 2015 ihr Engagement um drei Jahre verlängerte. www.hslu.ch/oegm
Grosse Meinungsverschiedenheit
Bis es so weit ist, wird es in der Schweiz aber noch länger dauern. Denn die Studie zeigt weiter, dass für einen funktionierenden Qualitätswettbewerb entscheidende Voraussetzungen (noch) nicht gegeben sind. «Die von uns befragten Expertinnen und Experten bezeichnen die Datengrundlage im stationären Bereich als unvollständig und im ambulanten Bereich als ‹nicht vorhanden›», sagt Blatter. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Leistungserbringer und Krankenkassen nicht einig sind, welche Dimensionen und Aspekte der Qualität gemessen und wie die Messergebnisse kommuniziert werden sollen.
Die Spitäler werfen den Versicherern vor, einseitig auf sogenannte Outcome-Messungen wie Infektionsrate oder Patientenzufriedenheit zu fokussieren. Sie wollen, dass Diagnose- und Indikationsqualität ebenfalls miteinbezogen werden. Die Krankenversicherer ihrerseits fordern von den Leistungserbringern mehr Initiative. «Es kratzt am Berufsstolz mancher Ärzte, dass die Qualität ihrer Leistungen gemessen und ausgewiesen werden soll», sagt Blatter. Für den SVV jedoch ist die Ausgangslage klar. «Gemäss Krankenversicherungsgesetz ist es Aufgabe der Leistungserbringer, die medizinische Qualität sicherzustellen», sagt Ann-Karin Wicki und plädiert deshalb für einen vertieften Dialog zwischen Leistungserbringern und Versicherern über Qualität. «Dabei müsste die Qualität sowohl bezüglich Prozess, Ergebnis als auch Diagnose und Indikation berücksichtigt werden», so Wicki. Wichtig sei zudem, dass die verschiedenen Qualitätsdimensionen gemessen, transparent gemacht und in die Tarifverhandlungen miteinbezogen werden.
Grundsätzlich, sagen Blatter und Willisegger, hätten sowohl Leistungserbringer als auch Versicherer Interesse an einer Qualitätssteigerung bezüglich der medizinischen Leistungen – und an mehr Transparenz. «Krankenkassen wollen, dass sich ihre Versicherten für die bestmögliche Behandlung entscheiden, weil Qualität das Risiko von Folgekosten schmälert», so Willisegger. Wicki ergänzt: «Wir erhoffen uns durch mehr Qualität einen dämpfenden Einfluss auf die Gesundheitskosten, mehr Transparenz und Vergleichbarkeit bei medizinischen Leistungen und Leistungserbringern.»
Die Spitäler wiederum brauchen Qualität zur Profilierung. Seit der Einführung der neuen Spitalfinanzierung 2012 stehen sie unter stärkerem Konkurrenzdruck, insbesondere über die Kantonsgrenzen hinweg. Wer nun gut arbeitet und dies auch ausweisen kann, ist gegenüber der Konkurrenz im Vorteil. Und hat gute Karten gegenüber den Kantonen. Denn diese wählen im Rahmen der kantonalen Spitalplanung, mit welchen Institutionen sie die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen wollen. «Bei der Zusammenstellung ihrer Spitallisten formulieren die Kantone immer mehr auch Qualitätskriterien», sagt Blatter.
Druck der öffentlichen Hand wird grösser
Die öffentliche Hand wird es in den nächsten Jahren denn auch sein, die den Druck auf die Tarifpartner erhöht, damit diese endlich Voraussetzungen für einen funktionierenden Qualitätswettbewerb schaffen. Davon sind die zwei Politikwissenschaftler überzeugt. «Die gesetzliche Grundlage dafür besteht seit längerem», sagt Willisegger. Und Ende 2015 doppelte der Bundesrat nach: Im Rahmen seiner Qualitätsstrategie will er unter anderem nationale Qualitätsprogramme erarbeiten. Derzeit liegt die entsprechende Gesetzesanpassung beim Parlament.
Autorin: Yvonne Anliker
Grafik: Hochschule Luzern
«Tripadvisor» für Spitäler, warum nicht?
Was bedeutet es für die Prämien, wenn die Qualität steigt?
«Qualität kann kostendämpfend wirken, aber nicht kostensenkend. Die Höhe der Prämie wird massgeblich durch die Menge der in der Schweiz erbrachten Leistungen in den Spitälern und Arztpraxen bestimmt. Aufgrund der demografischen Entwicklung haben wir immer mehr ältere Leute und chronisch Kranke, die medizinisch umfassender behandelt werden müssen. Kommt hinzu, dass die technologische Entwicklung und immer neue Medikamente die Versorgung teilweise massiv verteuern werden.»
Wie sollen die Daten zur Leistungsqualität für die Öffentlichkeit aufbereitet werden?
«Das soll der freie Markt entscheiden. Liegt erst einmal eine gute Datengrundlage vor, können diverse Anbieter die Zahlen aufbereiten und anschaulich präsentieren, so wie dies heute der Internet-Vergleichsdienst comparis.ch mit den Krankenkassenprämien macht. Wir könnten uns auch eine App vorstellen, mit der man sich über das Angebot und die Qualität in den Spitälern in der Umgebung informieren kann – ähnlich wie bei Tripadvisor.»
Durch eine erhöhte Transparenz bezüglich Qualität wird den Patienten mehr Verantwortung bei der Wahl eines geeigneten Spitals übertragen. Kann das zur Last werden?
«Nein. Wer die Wahl des bestmöglichen Spitals zum Beispiel an den Hausarzt delegieren will, kann dies auch weiterhin so handhaben. Durch mehr Transparenz und Klarheit in den Datengrundlagen für die medizinische Leistungsqualität wird die Steuerung durch die Hausärzte aber ebenfalls einfacher und für die Patienten letztlich besser.»
Auskunft gaben die zwei Politikwissenschaftler Jonas Willisegger und Hannes Blatter der Hochschule Luzern.
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