«Die Leute engagieren sich nach wie vor in ihrer Nachbarschaft», sagt die Soziologin. Jedoch hat sich das rein formale Engagement in traditionellen Gremien verschoben hin zu punktuellem und informellem Engagement. Konkret heisst das: Die jährliche Generalversammlung einer Genossenschaft lockt nicht mehr so viele Interessierte an wie früher, und nur wenige wollen in einer Siedlungskommission mitwirken. Solche formalen Gefässe werden als Verpflichtung und als wenig sinnstiftend oder einladend angesehen. Innerhalb des eigenen Hauses und im persönlichen Wohnumfeld hingegen setzen sich die Leute nach wie vor ein: Sie hüten die Nachbarskinder, gehen für den älteren Nachbarn einkaufen, organisieren ein kleines Fest.
Fokus zu wenig auf das Soziale gelegt
«Wohnbaugenossenschaften müssen sich die Frage stellen, wie sie von dieser Form des Engagements profitieren können, um den Zusammenhalt der gesamten Organisation zu stärken. Sie müssen aktiv werden», sagt Emmenegger. Denn das Forschungsprojekt hat schnell gezeigt: Das veränderte Engagement ist nicht einfach auf den allgemeinen Trend zur Individualisierung und zur Pluralisierung zurückzuführen. Emmenegger: «Viele Genossenschaftsverwaltungen haben in den letzten Jahren ihren Fokus zu wenig auf das soziale Miteinander gelegt.»
Dies geschah vielerorts nicht bewusst. «Vor allem in einigen traditionellen Genossenschaften ist der Elan der Anfangszeit verflogen: Man lebt nebeneinander und hat das Gemeinsame aus den Augen verloren», sagt Daniel Blumer vom Regionalverband Bern-Solothurn von Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Das wird spätestens dann zum Problem, wenn ein Gebäude seine Lebensdauer erreicht und durch einen Neubau ersetzt werden sollte. «Ist das Interesse am Gemeinwohl nicht mehr vorhanden und will kaum jemand mehr mitgestalten und mitbestimmen, ist es für eine Genossenschaft besonders schwierig, ein solches Projekt in Angriff zu nehmen», so Blumer. Aufgrund der stetig wachsenden Nachfrage nach preisgünstigen Wohnungen haben sich zudem viele Genossenschaften in den letzten Jahren mehrheitlich darauf konzentriert, zu wachsen. So geschehen bei der BEP, der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals, die mit über 1’300 Wohnungen eine der grössten Zürcher Wohnbaugenossenschaften ist. «Die Bautätigkeiten und die Expansionspläne dominierten die Genossenschaft», sagt Marianne Huwyler, Leiterin Soziales und Kultur der BEP.
Mitglieder zu Mietern gemacht
Diese Entwicklung möchten viele Genossenschaften kritisch reflektieren und mithilfe des Forschungsprojekts der Hochschule Luzern die Aufmerksamkeit neben Bau und Unterhalt zusätzlich vermehrt auf das soziale Miteinander legen: Sie wollen das Engagement ihrer Mitglieder fördern und Möglichkeiten zur Mitwirkung schaffen. Damit dies gelingt, müssen die Organisationen an drei Orten ansetzen, wie das Wissenschaftsteam der Hochschule Luzern aufzeigt: bei den Strukturen der Genossenschaft, dem gelebten Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner sowie dem baulichen Umfeld.
«Wohnbaugenossenschaften haben ihre Genossenschafterinnen und Genossenschafter tendenziell zu Mieterinnen und Mietern gemacht », sagt Barbara Emmenegger. So haben viele Organisationen ihre Verwaltung stark professionalisiert, mussten dies oftmals tun, weil die Anzahl der verwalteten Wohnungen stetig stieg. Die neue Struktur liess in vielen Fällen keinen Platz mehr für Partizipation – manchmal nicht ungewollt. «Es braucht Zeit, wenn mehrere Leute mitdiskutieren und mitbestimmen. Deshalb verwehren sich Organisationen zum Teil diesem Prozess», ergänzt die Soziologin. «Sie müssen sich wieder öffnen, wenn sie den genossenschaftlichen Gedanken stärken wollen.»
Das Projekt geht weiter
Das Forschungsprojekt zu Nachbarschaften in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen wird vom Departement Soziale Arbeit der Hoch - schule Luzern geleitet. Mit von der Partie sind elf Genossenschaften, die Stiftung Domicil, zwei Regionalverbände der Dachorganisation Wohnbaugenossenschaften Schweiz und das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO). Die Kommission für Technologie und Innovation (KTI) des Bundes unterstützt das Projekt. In den vergangenen Monaten wurde mittels Interviews und in Workshops ausgearbeitet, welche Voraussetzungen es für tragfähige Nachbarschaften innerhalb von Genossenschaften braucht. In einer weiteren Etappe werden nun die beteiligten Organisationen zusammen mit der Hochschule Luzern Werkzeuge entwickeln, die Genossenschaften dabei unterstützen, das soziale Miteinander zu fördern und zu stärken. www.hslu.ch/nachbarschaften-genossenschaften
«Zusammen sind wir stärker!» So heisst es auf der Website des Dachverbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Damit ausgedrückt wird der Grundgedanke der ihm angeschlossenen Vereinigungen. In den Genossenschaften organisieren sich Leute mit dem gleichen Ziel, um dieses gemeinsam zu erreichen: Sie wollen guten und erschwinglichen Wohnraum für alle Bevölkerungskreise bereitstellen. Möglich ist dies, weil die Wohnbaugenossenschaften Land und Liegenschaften der Spekulation entziehen und für die Miete nur so viel verrechnen, wie sie die Wohnung effektiv für Land, Unterhalt, Bau usw. kostet. Dadurch sind Genossenschaftswohnungen bis zu 20 Prozent günstiger als andere.
Genossenschaftliches Wohnen bedeutet jedoch mehr als erschwingliche Mieten. Jeder Haushalt erwirbt einen Anteilschein und wird Miteigentümer respektive Genossenschafter. Damit verpflichten sich die Bewohnerinnen und Bewohner, die Werte der Genossenschaft zu teilen, Verantwortung zu übernehmen und sich gegenseitig zu unterstützen. Eben: Zusammen ist man stärker.
Just dieser Idee scheinen viele nicht mehr zu folgen. Insbesondere ältere, traditionelle Wohnbaugenossenschaften klagen über den Verlust des Genossenschaftsgedankens: Viele der Mitglieder würden sich kaum noch engagieren und aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligen, was sich auch auf das Zusammenleben in den Nachbarschaften auswirke.
Engagement ist informeller
Ist der Genossenschaftsgedanke vielerorts tatsächlich verloren gegangen? Nein, aber das nachbarschaftliche Engagement hat sich verändert. Das ist das Fazit eines Forschungsprojekts (siehe Box) von Barbara Emmenegger vom Institut für Soziokulturelle Entwicklung des Departements Soziale Arbeit der Hochschule Luzern und ihrem Team, das sie derzeit zusammen mit 15 Praxisinstitutionen durchführen, gefördert von der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) des Bundes.
Das Forschungsteam schlägt deshalb Investitionen vor, die sozialräumlich ausgerichtet sind. Damit gemeint sind zum einen Regulative, die den Bewohnerinnen und Bewohnern für gewisse Angelegenheiten Eigenverantwortung im siedlungsinternen Alltag übergeben, wie für die gemeinsame Bewirtschaftung des Aussenraums. «Verwaltungen müssen aufhören, den Vollservice zu bieten und als einzige Pflicht von ihren Mitgliedern die Mietzinszahlung zu verlangen», sagt Daniel Blumer. Marianne Huwyler von der BEP ist sich bewusst, dass es nicht einfach ist, Kontrolle abzugeben. «Weil Entscheide anders ausfallen können als gewünscht.»
Zudem ist das Siedlungsleben zum Beispiel durch professionelle soziokulturelle Unterstützung zu animieren: Genossenschaftsverwaltungen sollten mehr informelle Mitwirkungsangebote unterstützen, die vielfältige Begegnungs- und Freizeitangebote in einer Siedlung ermöglichen. So dass sich möglichst viele Bewohnerinnen und Bewohner in unterschiedlichen Lebensphasen angesprochen fühlen und mitwirken können. «Viele Leute sind heute durch Job und Familie zwei- oder gar dreifach belastet. Aber auch sie sollen sich punktuell am Gemeinschaftsleben beteiligen können», sagt Emmenegger. Eine berufstätige Mutter organisiert zum Beispiel einmal im Jahr einen sonntäglichen Brunch in der Siedlung, andere veranstalten einen Filmabend im Siedlungslokal, oder man engagiert sich individuell im Gemeinschaftsgarten.
Wohnungen bewusster vergeben
Genossenschaften können den gelebten Alltag auch mit ihrer Wohnungsvergabepolitik steuern: Je nachdem, an wen sie eine Wohnung abgeben, entscheiden sie über die Zusammensetzung der Bewohnerinnen und Bewohner hinsichtlich Alter, Nationalität usw. und beeinflussen damit die Nachbarschaft. Gemäss dem Forschungsteam der Hochschule Luzern ist das zwar eine herausfordernde Aufgabe, aber eine mit viel Gestaltungspotenzial. Wobei dieses wiederum von einigen Genossenschaften aufgrund interner Bestimmungen nicht ausgeschöpft werden kann. «Wir haben lange Wartelisten, die Auswahl der neuen Nachbarn geschieht somit nicht im Hinblick auf eine geeignete Durchmischung. Umso wichtiger ist es, neue Mitglieder von Anfang an auf den genossenschaftlichen Gedanken einzuschwören und sie einzuspannen», sagt Huwyler.
Architektur beeinflusst Durchmischung
Schliesslich hat auch die Architektur einen grossen Einfluss darauf, ob sich Gemeinsinn entwickelt. Einerseits entscheidet die Grösse der Wohnungen, ob Familien, kinderlose Paare, ältere Leute oder junge Erwachsene einziehen. Andererseits beeinflusst das bauliche Umfeld, wo und wie Begegnungen möglich sind. «Qualitativ gut gestaltete Begegnungsräume im Innen- und im Aussenraum fördern Kontakte », sagt Emmenegger. Damit gemeint sind unter anderem sogenannte «kommunikative » Treppenhäuser oder grosse Waschküchen, damit sich die Nachbarn automatisch immer wieder über den Weg laufen. «Solche Überlegungen muss man sich während der Planung machen. Dabei ist wichtig, nicht alles fertig zu planen, sondern Gestaltungsmöglichkeiten zu lassen», sagt Blumer. Damit die Bewohnerinnen und Bewohner selber entscheiden können, wie sie zum Beispiel den Innenhof ihrer Siedlung nutzen wollen. «Das fördert die Verbundenheit mit dem Zuhause und trägt dazu bei, dass man Verantwortung übernimmt. Es schweisst zusammen», so Blumer.
Und darum geht es schliesslich. «Die Lebensformen, die Nationalitäten und Kulturen in unserer Gesellschaft werden immer vielfältiger, auch die Demografie verändert die Bevölkerungszusammensetzung. Wohnbaugenossenschaften sind mit ihren Mitwirkungsstrukturen prädestiniert, den Zusammenhalt zu fördern», sagt Emmenegger. Der Zusammenhalt der Gesellschaft beginnt also auch in kleinen Gemeinschaften.
Autorin: Yvonne Anliker
Bilder: zVg
Grafik: Hochschule Luzern. Quelle: Wohnbaugenossenschaften Schweiz/ Strukturerhebung 2014, BFS.