Was sind heute die Erwartungen an Sozialarbeitende?
Die Bevölkerung fordert Transparenz. Das ist legitim, die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wofür Steuergelder verwendet und nach welchen Kriterien Sozialhilfebeziehende unterstützt werden. Die Aufdeckung von Missbrauchsfällen und die heftigen Diskussionen in Politik und Gesellschaft vor einigen Jahren haben aber dazu geführt, dass heute die Erwartungen an Sozialarbeitende zu hoch sind.
Können Sie ein Beispiel geben?
Seit Jahren bewegt sich die Missbrauchsquote bei ein bis maximal zwei Prozent, bei über einer Viertelmillion Sozialhilfebeziehenden und nochmals so vielen Hilfsbedürftigen, die sich aber nicht an den Staat wenden. Trotzdem setzte Emmen 2005 als erste Gemeinde der Schweiz einen Sozialinspektor ein. Es folgten andere Kommunen. Damit signalisierte die öffentliche Hand einerseits, dass man Sozialarbeitende nicht für kompetent genug hielt, und schürte andererseits die Erwartung der Bevölkerung, künftig jeglichen Missbrauch in der Sozialhilfe zu verhindern – was schlicht nicht machbar ist.
Innerhalb der von Ihnen untersuchten Sozialbehörde hat dieser Druck zu einer Kultur des Misstrauens geführt. Wieso?
Der Druck von aussen wurde an die Mitarbeitenden weitergegeben. Die Führung erliess eine Vielzahl neuer Regeln, der Aufwand für die Überprüfung, die Absicherung und die Kontrolle der Fälle stieg stark an. Viele Mitarbeitende werteten diese Massnahmen zudem als mangelndes Zutrauen der Führung in ihre Fähigkeiten. Auch heute ist das Verhältnis nach wie vor angespannt: Rund die Hälfte der befragten Sozialarbeitenden ist sich nicht sicher, ob sie nach einem Fehler Rückendeckung vom Arbeitgeber bekommen würde. Damit wächst die Angst vor Fehlern.
Wie hat das die Arbeit von Sozialarbeitenden verändert?
Steigt der Druck auf die Sozialarbeitenden, möglichst viele Unstimmigkeiten und Missbräuche aufzudecken, steigt das Misstrauen gegenüber den Klientinnen und Klienten. Acht Prozent der befragten Sozialarbeitenden stehen heute bereits allen Klienten generell misstrauisch gegenüber, weitere acht Prozent haben teilweise Schwierigkeiten, neuen Sozialhilfebeziehenden Vertrauen entgegenzubringen. Das ist sehr problematisch für eine Arbeitsbeziehung von Sozialarbeitenden und Klienten, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert.
Warum ist Vertrauen wichtig?
Sozialarbeitende können nur helfen, wenn die Klientinnen und Klienten ihnen ihre teilweise sehr persönlichen Probleme offenlegen. Dafür braucht es zwingend Vertrauen – beidseitig.
Gilt denn nicht: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?
Doch. Die Sozialhilfe bewegt sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, was bei Sozialarbeitenden in gewissen Situationen zu einem Rollenkonflikt führen kann. Kontrolle ist aber nicht gleich Misstrauen.
Wo liegt der Unterschied zwischen Kontrolle und Misstrauen?
Misstrauen hat eine andere Qualität, ist feindselig. Im persönlichen Gespräch lässt es sich nicht verstecken. Wer misstrauisch ist, zweifelt die Aufrichtigkeit des Gegenübers an. Der Fokus liegt nicht mehr darauf, einen Verdacht zu prüfen, vielmehr geht es darum, eigene negative Annahmen zu bestätigen. Dabei bedient man sich sehr oft Stereotypen.
Was geschieht dann?
Beispielsweise wird die Unterstützung gekürzt, um die Reaktion der Person darauf zu erfahren. Wehrt sie sich nicht, kann dies als Beweis für mangelnde Bedürftigkeit gewertet werden. Oder ein Termin wird frühmorgens angesetzt, um zu testen, ob ein Bezüger auch dann noch pünktlich erscheint. Jene, die das System missbrauchen wollen, erwischt man auf diese Weise eher nicht. Sie werden sich bemühen, alle «Tests» zu bestehen, um nicht aufzufallen. Misstrauen ist nicht dazu geeignet, das Gegenüber besser zu durchschauen.
Wie reagieren Sozialhilfebeziehende auf Misstrauen?
Nicht anders, als es Menschen in anderen Lebenssituationen auch tun: Es gibt Personen, die nicht reagieren, andere ziehen sich zurück – auch wenn sie die Unterstützung nötig hätten. Wieder andere zeigen Widerstand bis hin zu Aggressivität – was Sozialarbeitende wiederum als Zeichen für einen Missbrauch interpretieren können. Misstrauen ist somit für eine Fallbeurteilung nicht zielführend, sondern schädlich.
Ihre Untersuchung hat gezeigt, dass der Ermittlungsdruck bei Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern mit Migrationshintergrund besonders gross ist. Warum?
Tatsächlich richteten sich in den vergangenen Jahren 80 Prozent der Ermittlungsaufträge der von uns untersuchten Behörde gegen Personen mit Migrationshintergrund. Sie werden von den Sozialarbeitenden nicht grundsätzlich stärker verdächtigt. Aber sie werden eher von ihren Mitbürgern denunziert. Zudem reagiert die Öffentlichkeit im Fall eines Missbrauchs hier besonders empfindlich. Deshalb ist die Befürchtung, bei diesen Sozialhilfebeziehenden etwas zu übersehen, besonders gross, und die Verantwortlichen gehen lieber auf Nummer sicher.
Wie repräsentativ ist Ihre Untersuchung?
Ergebnisse aus einem Kanton oder einer Behörde sind zunächst einmal nicht repräsentativ für die ganze Schweiz. Die Untersuchung belegt jedoch ungünstige soziale Prozesse, die grundsätzlich überall auftreten können. Und zwar immer dann, wenn eine Institution unter Druck gerät, ihre Kompetenzen bei der Missbrauchsbekämpfung besonders unter Beweis stellen zu müssen. Ich finde es deshalb erfreulich, dass die Sozialbehörde einer Schweizer Grossstadt dazu bereit war, die Auswirkungen dieses Drucks genauer prüfen zu lassen.
Wie lässt sich das Vertrauen der Sozialarbeitenden wieder stärken?
Am wichtigsten ist, den Rollenkonflikt von Sozialarbeitenden nicht noch zusätzlich zu verstärken: Misstrauen darf nicht zur Routine werden. Dafür braucht es eine konstruktive Fehlerkultur: Mitarbeitende sollten Rückendeckung von ihren Vorgesetzten bekommen, aus Fehlern sollte man lernen können. Unsicherheit und Angst sind schlechte Ratgeber. Zu viele Vorschriften machen die Arbeit nicht besser, allenfalls komplizierter.
Interview: Yvonne Anliker
Wie hat das die Arbeit von Sozialarbeitenden verändert?
Steigt der Druck auf die Sozialarbeitenden, möglichst viele Unstimmigkeiten und Missbräuche aufzudecken, steigt das Misstrauen gegenüber den Klientinnen und Klienten. Acht Prozent der befragten Sozialarbeitenden stehen heute bereits allen Klienten generell misstrauisch gegenüber, weitere acht Prozent haben teilweise Schwierigkeiten, neuen Sozialhilfebeziehenden Vertrauen entgegenzubringen. Das ist sehr problematisch für eine Arbeitsbeziehung von Sozialarbeitenden und Klienten, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert.
Warum ist Vertrauen wichtig?
Sozialarbeitende können nur helfen, wenn die Klientinnen und Klienten ihnen ihre teilweise sehr persönlichen Probleme offenlegen. Dafür braucht es zwingend Vertrauen – beidseitig.
Gilt denn nicht: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?
Doch. Die Sozialhilfe bewegt sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, was bei Sozialarbeitenden in gewissen Situationen zu einem Rollenkonflikt führen kann. Kontrolle ist aber nicht gleich Misstrauen.
Wo liegt der Unterschied zwischen Kontrolle und Misstrauen?
Misstrauen hat eine andere Qualität, ist feindselig. Im persönlichen Gespräch lässt es sich nicht verstecken. Wer misstrauisch ist, zweifelt die Aufrichtigkeit des Gegenübers an. Der Fokus liegt nicht mehr darauf, einen Verdacht zu prüfen, vielmehr geht es darum, eigene negative Annahmen zu bestätigen. Dabei bedient man sich sehr oft Stereotypen.
Was geschieht dann?
Beispielsweise wird die Unterstützung gekürzt, um die Reaktion der Person darauf zu erfahren. Wehrt sie sich nicht, kann dies als Beweis für mangelnde Bedürftigkeit gewertet werden. Oder ein Termin wird frühmorgens angesetzt, um zu testen, ob ein Bezüger auch dann noch pünktlich erscheint. Jene, die das System missbrauchen wollen, erwischt man auf diese Weise eher nicht. Sie werden sich bemühen, alle «Tests» zu bestehen, um nicht aufzufallen. Misstrauen ist nicht dazu geeignet, das Gegenüber besser zu durchschauen.
Wie reagieren Sozialhilfebeziehende auf Misstrauen?
Nicht anders, als es Menschen in anderen Lebenssituationen auch tun: Es gibt Personen, die nicht reagieren, andere ziehen sich zurück – auch wenn sie die Unterstützung nötig hätten. Wieder andere zeigen Widerstand bis hin zu Aggressivität – was Sozialarbeitende wiederum als Zeichen für einen Missbrauch interpretieren können. Misstrauen ist somit für eine Fallbeurteilung nicht zielführend, sondern schädlich.
Ihre Untersuchung hat gezeigt, dass der Ermittlungsdruck bei Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern mit Migrationshintergrund besonders gross ist. Warum?
Tatsächlich richteten sich in den vergangenen Jahren 80 Prozent der Ermittlungsaufträge der von uns untersuchten Behörde gegen Personen mit Migrationshintergrund. Sie werden von den Sozialarbeitenden nicht grundsätzlich stärker verdächtigt. Aber sie werden eher von ihren Mitbürgern denunziert. Zudem reagiert die Öffentlichkeit im Fall eines Missbrauchs hier besonders empfindlich. Deshalb ist die Befürchtung, bei diesen Sozialhilfebeziehenden etwas zu übersehen, besonders gross, und die Verantwortlichen gehen lieber auf Nummer sicher.
Wie repräsentativ ist Ihre Untersuchung?
Ergebnisse aus einem Kanton oder einer Behörde sind zunächst einmal nicht repräsentativ für die ganze Schweiz. Die Untersuchung belegt jedoch ungünstige soziale Prozesse, die grundsätzlich überall auftreten können. Und zwar immer dann, wenn eine Institution unter Druck gerät, ihre Kompetenzen bei der Missbrauchsbekämpfung besonders unter Beweis stellen zu müssen. Ich finde es deshalb erfreulich, dass die Sozialbehörde einer Schweizer Grossstadt dazu bereit war, die Auswirkungen dieses Drucks genauer prüfen zu lassen.
Wie lässt sich das Vertrauen der Sozialarbeitenden wieder stärken?
Am wichtigsten ist, den Rollenkonflikt von Sozialarbeitenden nicht noch zusätzlich zu verstärken: Misstrauen darf nicht zur Routine werden. Dafür braucht es eine konstruktive Fehlerkultur: Mitarbeitende sollten Rückendeckung von ihren Vorgesetzten bekommen, aus Fehlern sollte man lernen können. Unsicherheit und Angst sind schlechte Ratgeber. Zu viele Vorschriften machen die Arbeit nicht besser, allenfalls komplizierter.