«Bau 745?» Die Frau in dem kleinen Gebäude hinter der Abschrankung steckt den Kopf aus der Tür und weist mit dem Finger auf die Strasse zwischen zwei grauen, hohen Gebäuden. «Vorbei an 736 und dann links. Passen Sie auf die Lastwagen auf.» Wer die Viscosistadt in Emmen betritt, ist im Moment noch so etwas wie ein Eindringling. Das soll sich in den nächsten Monaten ändern. Grundlegend. Der Zaun, der das 80’000 Quadratmeter grosse Industrieareal umgibt, wird abgerissen, und im westlichen Teil, am Ufer der Kleinen Emme, entsteht ein öffentlicher Park. Die Viscosistadt ist im Umbruch. Und sie ist ein Ort des Aufbruchs. Ab September werden 110 Mitarbeitende und rund 350 Studierende – das ist rund die Hälfte des Departements Design & Kunst – hierher ziehen. Studentinnen und Studenten der Studienrichtungen Animation, Video, Camera Arts, Digital Ideation, Kunst & Vermittlung sowie des Master Fine Arts werden in Bau 745 eine neue Wirkungsstätte finden.
Ein Quartier entwickelt sich
In den 1960er-Jahren, zur Blütezeit der synthetischen Garnherstellung, haben rund 3’500 Menschen bei der Viscosuisse ihr Brot verdient. Heute produziert und verarbeitet die Nachfolgerin Monosuisse auf dem Gelände mit noch rund 200 Arbeitsplätzen Spezialgarne, und die Firma Swissflock stellt weiterhin Flock für den internationalen Markt her. In umgenutzten Gebäuden haben sich in den vergangenen Jahren Dutzende von Freischaffenden aus der Kreativwirtschaft und viele Gewerbebetriebe angesiedelt – Grafik- und Architekturbüros, Druckereien, Aus- und Weiterbildungsbetriebe, Handwerker. Auch die Kunstplattform Akku ist in der Viscosistadt domiziliert. «Dass die Hochschule Luzern hierherzieht, wird der Entwicklung weiter Schub verleihen», sagt Alain Homberger, Geschäftsführer der Viscosistadt AG. Er sieht das Departement Design & Kunst als Knotenpunkt eines kreativen Netzwerks und als Katalysator für die Öffnung eines Areals, das während Jahrzehnten Teil der Stadt Emmen und doch von ihr abgeschirmt war.
Kreative Arbeitsumgebung
Von aussen sieht es aus, als sei Bau 745 schon fertig. Doch beim Öffnen der Tür schlägt einem aus dem Treppenhaus ein Hämmern und Klopfen entgegen und der Geruch nach frischer Farbe. Herunterhängende Plastikfolie versperrt die Sicht. Martin Wiedmer schiebt sie wie einen Vorhang beiseite. Die Ausdehnung der Eingangshalle ist gewaltig: knapp 800 Quadratmeter, auf beiden Seiten hohe Fensterfronten, durch die das Licht hereinflutet. Martin Wiedmer ist Vizedirektor am Departement Design & Kunst, er ist ausgebildeter Architekt und Mitglied des vierköpfigen Projektleitungsteams auf Seiten der Hochschule Luzern. Er lässt den Blick zufrieden zur fünf Meter hohen Decke schweifen und sagt: «Bei einem Neubau könnte sich das heute kein Mensch mehr leisten.»
Innerhalb eines Jahres entstanden in dem 60 Jahre alten Fabrikbau grosszügige Unterrichtsräume, Ateliers und Werkstätten sowie eine moderne technische Infrastruktur mit Film- und Tonstudios. Ein Ort, der Studierenden und Dozierenden eine inspirierende Atmosphäre bietet zum Lernen, Lehren und Forschen. Ihre neue Wirkungsstätte soll kein abgeschlossener Ort sein, sondern durchlässig nach aussen. «Für viele unserer Studienrichtungen ist der Austausch mit der Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung und Teil des Unterrichtskonzepts», erklärt Martin Wiedmer. Das offen gestaltete Erdgeschoss soll diesen Dialog nicht nur ermöglichen, sondern geradezu provozieren.
Wiedmer spürt, dass seine Ausführungen im Moment noch einiges an Vorstellungskraft erfordern. Er geht mit langen Schritten quer durch die Halle und breitet die Arme aus. «Hier werden Studierende der verschiedenen Studienrichtungen ihre Arbeiten ausstellen können. Wir wollen zeigen, was wir machen. Uns und natürlich auch allen, die uns besuchen – Gästen, Passanten, Menschen, die auf dem Areal arbeiten.» Eine Bibliothek und eine Cafeteria sollen für Publikumsverkehr sorgen und natürlich der kleine Kinosaal. Seine Nutzung wird nicht allein den Studierenden des Bereichs Film vorbehalten sein, sondern auch Kleinveranstaltern und kulturinteressierten Menschen aus der Umgebung zur Verfügung stehen. Möglichkeiten für öffentliche Veranstaltungen bietet auch eine Aktionshalle auf der Nordseite des Gebäudes.
Spuren der Vergangenheit
An der Decke sind noch alte Krananlagen zu sehen, und der ockerfarbene Boden weist an einigen Stellen dunkelrote Einlassungen auf. Eine Art modernes Mosaik? Wiedmer lacht und schüttelt den Kopf. «Dort standen ursprünglich Webmaschinen und Testaufbauten für die Versuche. Die Vertiefungen, die sie hinterlassen haben, wurden aufgefüllt. Die Böden im Gebäude sind lediglich abgeschliffen, hier und da sieht man Gebrauchsspuren.» Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, unter welcher Prämisse der Umbau stand: «Es galt, das Optimum aus dem Vorhandenen herauszuholen», erklärt Alain Homberger. In den Umbau des fünfstöckigen Gebäudes, das über eine Nutzfläche von 12’500 Quadratmetern verfügt, investierte die Viscosistadt AG rund 24 Millionen Franken. Das Gebäude soll kein Prestigeobjekt sein, sondern zweckmässig, da waren sich Viscosistadt und Mieterin einig. «Ausstrahlung wollen wir nicht über edlen Innenausbau erreichen», betont Martin Wiedmer, «sondern über das, was hier geschieht, was Studierende und Dozierende schaffen.»
Ein grosszügig gestaltetes Erdgeschoss, drei Stockwerke mit Unterrichtsräumen und Ateliers, ein Obergeschoss, in dem Dozierende, Forschende sowie Mitarbeitende der Verwaltung und die Direktion ihre Arbeitsplätze haben – das ist, was Besucherinnen und Besucher als Erstes von Bau 745 wahrnehmen. Der heimliche Nucleus des Gebäudes, der Sound- und Technikcluster, befindet sich jedoch im Untergeschoss. Der Gegensatz zu den lichten und luftigen Räumen in den oberen Stockwerken könnte kaum grösser sein. Hier unten soll konzentriert und abgeschirmt von der Aussenwelt gearbeitet werden: im Filmstudio mit seinen abgerundeten Wänden, einer sogenannten «Hohlkehle». Im «Schwarzraum», wo Animationsfilmerinnen und -filmer unter Scheinwerferlicht ihre Figuren zum Leben erwecken. Oder an den zahlreichen Schnittplätzen – kleine Zellen mit schmalen hohen Fenstern und Wänden, die in einem speziellen Grauton gestrichen wurden, damit Farben und Licht auf dem Bildschirm so erscheinen, wie sie sind.
Ein Bau mit vielen Funktionen
«Die grösste Herausforderung stellte für die Architekten, die Ingenieure und die Handwerker allerdings das Aufnahmestudio dar», sagt Wiedmer. Um Geräusche fernzuhalten, wurde es in der Mitte des Grundrisses platziert und von einem «Speckgürtel» umgeben, von Lagerräumen etwa, die als Geräuschpuffer dienen. Zusätzlich soll ein «Raum-im-Raum-Konzept» verhindern, dass der Schall aus dem übrigen Gebäudeteil nach innen dringt.
«Für eine Hochschule zu bauen, dazu für den Bereich Design und Kunst mit seinen spezifischen Anforderungen an das Raumkonzept, war eine besondere Herausforderung», sagt Alain Homberger. Mit EM2N beauftragte die Viscosistadt AG ein Architekturbüro, das Erfahrung hat mit komplexen Umbauten und der Metamorphose von industriell genutzten Arealen. EM2N verwandelte bereits die Grossmolkerei Toni in Zürich in eine moderne Hochschule für Musik, Kunst und Theater. Auch beim Umbau in der Viscosistadt erhielten die Architekten die Vorgabe, dass der industrielle Charakter des Gebäudes erhalten bleiben soll. Das war Homberger eine Herzensangelegenheit. «Wir wollen nicht alles niederreissen und neu beginnen, als hätten wir keine Geschichte. Wir bewegen uns aus unserer Vergangenheit in die Zukunft und wollen das Gute hinüberretten.»
Platz im Zentrum
Die Referenz an die Geschichte spiegelt sich nicht nur in der Architektur. Sie offenbart sich auch in der Signaletik – etwa in der pragmatischen Bezeichnung der Gebäude nach ihrer Assekuranznummer – und in der Namensgebung für die Strassen und Gassen des Areals. So wird es eine «Spinnereistrasse» und eine «Polymerstrasse» geben, eine «Fadengasse» und eine «Zettelgasse». Das Departement Design & Kunst wird die vornehme Adresse «Nylsuisseplatz 1» führen. Ein Name, der an goldene Zeiten erinnert, als Viscosuisse eine der europaweit grössten Herstellerinnen von Nylon war. «In der weiteren Entwicklung des Areals», so Alain Homberger, «wird dieser Platz eine Zentrumsfunktion erhalten.» – Was für die Zürcher Bahnhofstrasse der Paradeplatz, wird für die Viscosistadt dereinst der Nylsuisseplatz.
Weitere Informationen zum neuen Standort des Departements Design & Kunst: www.hslu.ch/viscosistadt
Autorin: Sigrid Cariola