Erik Nagel, wann haben Sie zuletzt gedacht: «Oh nein, nicht schon wieder alles anders!»?
Daran kann ich mich nicht erinnern. Veränderungen machen mich in der Regel neugierig. Ich denke, das geht den meisten Menschen so. Und gerade Neugier ist ein wichtiger Faktor beim Change Management.
Inwiefern?
Wenn eine Organisation sich neu aufstellen will, muss sie bei den Mitarbeitenden die Lust auf das Neue wecken.
Oft provozieren Veränderungen wie Umstrukturierungen doch eher Ängste und Widerstand.
Das sehe ich nicht so. Meistens sind nicht die Veränderungen selbst das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie gestaltet werden. Wenn jemand einfach übergangen oder vor vollendete Tatsachen gestellt wird, provoziert das Widerstand unter den Mitarbeitenden oder auch innerhalb eines Führungsgremiums. Menschen lassen sich einfach nur ungern wie Objekte hin und her schieben.
Was hat Sie irritiert?
Er machte einen schweren Fehler. Anstatt die Ängste ernst zu nehmen und mit den Mitarbeitenden die Situation zu klären, hat er das Problem nicht nur unter den Teppich gekehrt, sondern noch verschlimmert. Als Führungskraft hätte er dafür sorgen müssen, dass die Angstkultur abgebaut und eine Vertrauenskultur aufgebaut wird.
Wie entsteht eine Vertrauenskultur? Lässt sich diese von «oben» entwickeln?
Vertrauen entsteht dann, wenn Einfluss genommen werden kann – zwischen Mitarbeitenden und zwischen Mitarbeitenden und Führungspersonen. Führungskräfte müssen beispielsweise auch die Grösse haben, bei gewichtigen Gegenargumenten Entscheidungen anzupassen oder gar zurückzunehmen. Natürlich nicht ständig – aber es muss möglich sein. Ganz zentral ist, dass ein konstruktiver Umgang mit Widerstand stattfindet.
Wie kann eine Organisation Widerstand bei einem Veränderungsprozess produktiv nutzen?
Der grosse Vorteil von Widerstand ist, dass er etwas zum Vorschein bringt: Unzufriedenheit, andere Wertvorstellungen, sachliche Differenzen. Nur indem man das erkennt, kann man damit arbeiten und daraus lernen.
Kann Widerstand einen Veränderungsprozess auch hemmen oder zum Erliegen bringen?
Auf jeden Fall. Widerstand kann eine ganze Organisation lähmen, nämlich dann, wenn er als Verhalten «kultiviert» wird, es beispielsweise zum guten Ton gehört, alles, was vom Management kommt, abzulehnen. Daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass die Widerstandbietenden Unrecht haben.
Gehen Organisationen mit einer flachen Hierarchie besser mit Veränderungen um als solche, die stark hierarchisch aufgebaut sind?
Wenn sie dazu noch kollaborativ arbeiten und gemeinsam die Spielregeln entwickeln, ja. Dann funktioniert der Austausch von Wissen, und die Mitarbeitenden lösen anstehende Probleme auch gemeinsam. Doch in einem Veränderungsprozess ist nicht allein die Durchlässigkeit zwischen den Hierarchiestufen wichtig. Es braucht auch die Bereitschaft, über fachliche und kulturelle Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten.
Interview: Sarah Nigg
Buchtipp zum Thema: Erik Nagel, Glücksfall Widerstand: Vom produktiven Umgang mit ganz normalen Ausnahmen.
Eine Organisation muss Mitarbeitenden eine Heimat bieten.
Wie können die Verantwortlichen bei Mitarbeitenden Neugier wecken?
Indem sie sie in den Veränderungsprozess einbinden, sie auffordern, sich zu äussern. Top-down-Entscheide, also «Vorgaben von oben», sind kontraproduktiv und stossen auf wenig Akzeptanz – und sind oft der Grund, warum ein Change Management harzt. Die Mitarbeitenden müssen in Workshops oder Diskussionsrunden ihre Meinung sagen können.
Werden solche Workshops und Diskussionsrunden nicht oft als Alibiübungen wahrgenommen? Die Mitarbeitenden können ja selten wirklich mitbestimmen, wohin die Reise geht.
Nur dann, wenn die Führung sie als Alibiübung inszeniert. Die Mitarbeitenden sollten nicht einfach auf eine Reise geschickt werden, sondern eine «Reiseroute » und ein «Reiseziel» tatsächlich mitdiskutieren oder mitgestalten können – selbst dann, wenn schmerzhafte Einschnitte wie etwa der Abbau von Stellen vorgenommen werden müssen.
Was sollten Führungskräfte in Veränderungsprozessen grundsätzlich tun?
Sie sollten bereit sein, sich zu exponieren, mit den Mitarbeitenden zu diskutieren, zuzuhören und eine ernsthafte, echte Auseinandersetzung zu führen. Und sich besinnen. Veränderungen werden zu häufig mit Reorganisation gleichgesetzt, in kurzen Abständen werden bestehende Bereiche und Teams immer wieder aufgelöst und neue gebildet.
Warum ist das unangemessen?
Dynamik erfordert Stabilität. Eine Organisation muss Mitarbeitenden eine Heimat bieten. Sie ist ein lebendiger Organismus mit sozialen Einheiten und verlässlichen Beziehungen. Finden immer wieder Reorganisationen statt, müssen diese Beziehungen ständig neu aufgebaut werden. Organisationen sind aber insbesondere dann leistungsfähig, wenn sie «wie geschmiert» laufen. Gerade dann kann sich ihr Potenzial entfalten.
Manche Mitarbeitenden schweigen vielleicht lieber, weil sie Angst davor haben, sich zu exponieren oder ihren Job zu verlieren. Wie kann eine solche Situation verhindert werden?
Ich habe einen solchen Fall tatsächlich einmal erlebt, als ich ein Seminar in einer Verwaltungsabteilung leitete. Die Mitarbeitenden gaben zu verstehen, dass sie Angst haben, ihrem Chef ihre Meinung mitzuteilen. Der Chef war auch im Raum und hörte sich das an. Am Schluss stand er auf und sagte: «Es gibt hier keine Angst.» Ich war völlig irritiert – alle waren es.
Vertrauen entsteht dann, wenn Einfluss genommen werden kann.