Der Fall vor rund fünfeinhalb Jahren warf hohe Wellen. Ein Vater erstickte seinen Sohn in einem Hotel in Winterthur. Für die Öffentlichkeit war klar: Die Vormundschaftsbehörde hat versagt. Sie hätte dem Mann nie die alleinige Obhut übertragen dürfen. Dieser Fall gilt seither als Exempel dafür, dass es richtig war, Anfang 2013 die bisherigen Laienbehörden durch professionelle regionale Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) abzulösen.
Doch auch die Fachbehörden stehen immer wieder unter Beschuss. Etwa, nachdem eine Mutter in Flaach ihre Kinder tötete und sich später in Untersuchungshaft das Leben nahm. Oder als diesen Sommer ein älterer Patient mithilfe seines Neffen aus dem Pflegeheim in seine deutsche Heimatstadt flüchtete.
Die KESB werden aktiv, wenn eine Gefährdungsmeldung eingeht, zum Beispiel von Familienangehörigen oder der Schule. Dann klären die Behörden oder Dritte die Situation ab und erstellen ein Gutachten. Und genau an dem Punkt sollte sich der Kindes- und Erwachsenenschutz weiter professionalisieren, finden Fachleute des Departements Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. «Denn wie die Fachkräfte bei einer Abklärung vorgehen, ist heute je nach Kanton, ja teilweise innerhalb einer einzelnen Behörde verschieden», moniert Jurist und Sozialarbeiter Daniel Rosch. «Auch die Kriterien, nach denen sie die Fälle beurteilen, sind nicht einheitlich.» Deshalb hat die Hochschule Luzern für den Erwachsenenschutz und – zusammen mit der Berner Fachhochschule – auch für den Kindesschutz ein solches Abklärungsinstrument entwickelt. Unterstützt wurden die Expertenteams von fünf KESB und sozialen Diensten.
Kriterien sind durch Studien abgesichert
Bei den zwei Instrumenten handelt es sich um webbasierte Fragenkataloge, die die Fachpersonen durch den Abklärungsprozess führen. «Die Grundlagen für die Fragen und die Kriterien, nach denen eine Situation beurteilt wird, sind soweit möglich durch Forschungsergebnisse abgesichert», erklärt Psychologe Andreas Jud. Ein Beispiel: Um bewerten zu können, ob die körperlichen Bedürfnisse eines einjährigen Kindes erfüllt sind, ist auch sein Schlafplatz zu prüfen. Wird in seinem Schlafraum geraucht, gilt dies als Gefährdung, denn Studien belegen, dass damit das Risiko für einen frühen Kindstod steigt.
Die beiden Abklärungsinstrumente ermöglichen den Fachpersonen, eine umfassende Analyse vorzunehmen und einzuschätzen, ob sie der KESB empfehlen, Massnahmen zu ergreifen – und wenn ja, welche. Dabei verknüpfen die Tools die Massnahmen jeweils mit den gesetzlichen Grundlagen. «Das ist eine grosse Hilfe», sagt Rosch. «Die Fachpersonen haben somit gleich die rechtlich relevanten Fragen präsent, die sie bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine Massnahme berücksichtigen müssen.»
Vergleichbarkeit steigt
Walter Siegrist, Leiter Bereich Soziales der Stadt Zofingen, würde es begrüssen, wenn der Kanton Aargau beide Abklärungsinstrumente flächendeckend einführte. Mit einheitlichen Prozessen «könnten alle auf dem gleichen Niveau agieren. Und alle Fälle würden mit den gleichen Massstäben beurteilt.» Dies wäre zum Vorteil der Betroffenen, sagt Siegrist. «Denn so steigt die Vergleichbarkeit der Fälle.» Ein weiterer Pluspunkt sei die höhere Transparenz. «Für alle Involvierten wäre nachvollziehbar, welche Aspekte ausschlaggebend sind, damit Massnahmen ergriffen werden», sagt Andreas Jud von der Hochschule Luzern.
Eine Standardisierung des Abklärungsprozesses und einheitlich definierte Beurteilungskriterien bringen also viele Vorteile mit sich. Doch Daniel Rosch stellt klar: «Es sind nicht einfach Checklisten, die Tools ersetzen das Denken nicht.» Die Schlussfolgerungen müssen Fachpersonen ziehen. Sie müssen wissen, wie Gespräche mit verschreckten Kindern, überlasteten Eltern oder psychisch kranken Erwachsenen geführt werden und auf welche Merkmale sie achten müssen.
«Mit der flächendeckenden Einführung von standardisierten Instrumenten werden sich tragische Ereignisse und Eskalationen nicht gänzlich verhindern lassen», sagt Andreas Jud. Manchmal stünden wichtige Informationen, die bei der Einschätzung behilflich wären, vielleicht nicht zur Verfügung. Zudem machen Menschen Fehler. «Aber die Instrumente können sicherstellen, dass bei der Abklärung keine relevanten Punkte vergessen gehen – damit sinkt zumindest das Risiko, dass grobe Fehler passieren.»
Autorin: Yvonne Anliker
Bild: Hochschule Luzern
Verschiedene Institutionen erproben die beiden Abklärungsinstrumente zum Kindes- und Erwachsenenschutz. Die Handhabung wird in Fachseminaren der Hochschule Luzern vermittelt. Begleitend werden die Tools in zwei Forschungsprojekten untersucht: Unter anderem möchten die Entwickler Antworten auf die Frage finden, ob sich mit der Einführung der Instrumente die Zahl und die Art der empfohlenen Massnahmen sowie deren Wirkung verändern. «Wir möchten zudem herausfinden, inwiefern die Tools Einfluss darauf haben, wie die involvierten Fachpersonen und die betroffenen Familien den Abklärungsprozess wahrnehmen», sagt Andreas Jud von der Hochschule Luzern.
Praxispartner gesucht
Gegenwärtig werden Dienste und Institutionen gesucht, die als Praxispartner am Forschungsvorhaben teilnehmen möchten. Interessierte melden sich bei Andreas Jud, andreas. jud@hslu.ch (Kindesschutz), oder Daniel Rosch, daniel.rosch@hslu.ch (Erwachsenenschutz). Weitere Informationen: www.hslu.ch/kes
Zur Medienmitteilung über die Abklärungsinstrumente im Kindes- und Erwachsenenschutz vom 19. Oktober 2015