Der Anblick ist gigantisch. Eine riesige Halle – 20 Meter hoch und 70 Meter lang – und mittendrin ein Schiff, das den Raum fast vollständig ausfüllt. Nach wenigen Schritten präsentiert sich den Besuchern eine weitere Überraschung: das grösste «Zämesetzi» der Schweiz! Während der vordere Teil des Passagierschiffes schon zusammengeschweisst ist, liegen das Heck und der künftige Saal für die Erstklass-Passagiere noch in Einzelteilen am Boden. Der Rohbau der MS 2017 – so lautet der provisorische Name des Schiffs – wird aus etwa 6000 individuell zugeschnittenen Stahlblechen gefertigt. Viele sind kleiner als eine Hand, das grösste ist 12 Meter lang.«Noch 750 Teile, dann ist der Rohbau vollendet », sagt David Müller, Projektleiter bei der Shiptec AG in Luzern.
Hybrid-Antrieb, Unterwasser-Fenster und Seewasser-Fussbad
Auftraggeberin ist die Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees (SGV). Ihr neues Motorschiff für 1000 Passagiere soll verblüffen und Innovationen der Extraklasse bieten – etwa einen Raum mit Unterwasser-Fenstern und eine Terrasse mit Seewasser- Fussbad. Die MS 2017 wird zahlreiche technische Neuerungen enthalten und soll auch punkto Energieeffizienz ein Flaggschiff werden. «Wir wollen den Energieverbrauch um 20 Prozent senken», erklärt David Müller. Der Neubau enthält deshalb als erstes Fahrgastschiff in Europa einen Hybridmotor. Doch damit nicht genug: Um die Energienutzung zu verbessern, geht Shiptec auch bei der Gestaltung der Schiffshülle und bei der technischen Ausrüstung neue Wege. Seit 2013 arbeitet die Werft daher eng mit Ingenieuren der Hochschule Luzern zusammen. Die Kommission für Technologie und Innovation (KTI) des Bundes unterstützt das Forschungsvorhaben.
Gebäudetechnik an Bord? Das geht!
«Ein Schiff ist ja eigentlich nichts anderes als ein schwimmendes Haus», so Urs-Peter Menti, Leiter des Zentrums für Integrale Gebäudetechnik (ZIG) der Hochschule Luzern. Daher sei es durchaus sinnvoll, das Knowhow aus der Fassaden- und Gebäudetechnik auch im Schiffbau zu nutzen. «Früher vernachlässigte man in unserer Branche die Hülle», erklärt Müller. Die Innenräume eines Schiffs würden in der Regel kaum gedämmt, denn die Abwärme der Motoren reiche vollauf, um das Schiff zu heizen. In der warmen Jahreszeit müsse sogar sehr viel überschüssige Wärme über den Kamin abgelassen werden. In den letzten Jahren wurden Ökologie und Treibstoffkosten jedoch auch in der Schifffahrt immer mehr zum Thema – weltweit. Es gebe noch einen weiteren Aspekt, fügt Müller an: «Die SGV nutzt ihre Schiffe immer öfter als Partylokale, und diese bleiben während der Veranstaltung am Ufer. Deshalb wuchs das Interesse, die Schiffe auch ohne brummende Motoren warm zu halten.»
Simulation: Energieverbrauch berechnet statt geschätzt
Urs-Peter Menti und sein Team haben grosse Erfahrung im Bereich energieeffizientes Bauen und Gebäudesimulationen. Das ZIG gehörte auch zum Planungsteam der Neuen Monte Rosa Hütte, die 2009 ihren Betrieb aufnahm. Diese innovative Berghütte war ein Pilotprojekt einer möglichst autarken Energieversorgung.«Damals simulierten wir zum ersten Mal nicht nur die Funktionsweise einzelner Geräte oder Räume am Computer, sondern ein komplettes Gebäude»,erzählt Menti. «Eine solche Simulation machten wir nun auch für die MS 2017.» Als erstes untersuchten die Fachleute der Hochschule Luzern drei Monate lang den Energiehaushalt eines bestehendes Schiffs – der MS Waldstätter. Sie machten Wärmebildaufnahmen, massen den Energieverbrauch oder testeten die Luftdichtheit der Schiffshülle. Diese Daten übertrugen sie in ein Computermodell und prüften dann, ob der Energieverbrauch bei unterschiedlichen Aussentemperaturen in der Realität tatsächlich um die prognostizierte Menge ansteigt oder abfällt. «Dieses Computermodell übertrugen wir schliesslich auf die Pläne der MS 2017 und spielten es mit zahlreichen Variablen – Wetter, Anzahl Fahrgäste, technische Lösungsvarianten – x-fach durch», sagt Menti. Dadurch habe sich die Planungssicherheit der Ingenieure erhöht, sie könnten nun die technischen Systeme um einiges genauer dimensionieren. Menti: «Vieles, was sich früher nur abschätzen liess, lässt sich nun vorausberechnen – so auch der Einfluss der Körperwärme der Passagiere auf die Raumtemperatur.» Für die bestehenden Schiffe der SGV-Flotte sind die Ergebnisse ebenfalls von Nutzen. Aufgrund der Messungen der Hochschule Luzern zeigte sich, dass auf der Waldstätter regelmässig die Ölheizung ansprang, um Heizwärme zu produzieren. Eigentlich würde dafür aber bei Normalbetrieb die Abwärme der Motoren vollauf genügen. «Nun haben wir den Heizkreislauf optimiert und die Temperaturschwelle des entsprechenden Wärmesensors um fünf Grad gesenkt», erklärt Müller. «Damit sparen wir pro Jahr 12'000 Liter Diesel.»
12000 Liter Diesel gespart
Insgesamt sind sechs Mitarbeitende aus dem Bereich Gebäudetechnik in die Planung des neuen Kursschiffs involviert. Zusätzlich zog Menti zwei Experten aus dem Kompetenzzentrum Fassaden- und Metallbau bei. «Parallel zu den virtuellen Schiffssimulationen machten wir eine breite Auslegeordnung für technische Lösungsansätze wie Solarenergie, Wärmepumpen oder Wasserkühlungssysteme», führt er aus.Einige Ideen habe man wieder verwerfen müssen. Darunter die Solarpanels auf dem Dach, weil sie unter dem Strich zu wenig Energie geliefert und dem Bau einer zusätzlichen Terrasse für die Passagiere im Weg gestanden hätten. Andere Vorschläge hingegen liessen sich umsetzen, etwa die Steuerung der Lüftung mittels CO2-Sensoren. Dank diesen wird immer dann, wenn die Luftqualität in den Innenräumen sinkt, automatisch Frischluft zugeführt. Völlig neu ist zudem die Installation eines Wärmespeichers, der es ermöglicht, die Wärme der Motoren länger zu nutzen. Die MS 2017 erhält einen herkömmlichen 3000-Liter-Speicher, wie er in Gebäuden mit Solaranlage zum Einsatz kommt. «Auf einem Schiff ist dieses System eine echte Innovation!», so Müller. Die gespeicherte Wärme sollte reichen, um die MS 2017 nach dem Abstellen der Motoren noch rund eineinhalb Stunden lang zu heizen.Nach einem Input ihrer «Ingenieurskollegen» von der Hochschule Luzern überarbeiteten die Schiffbauingenieure sogar nochmals die Grundkonstruktion des Schiffs. Normalerweise errichtet man für den Bau der Innenräume durchgehende Stahlwände, aus denen dann die Fenster ausgeschnitten werden. «Bei der MS 2017 entschieden wir uns jedoch für eine Gerüstkonstruktion», erklärt Müller und zeigt auf die senkrechten Metallbalken, die wie ein Gerippe die künftigen Innenräume vom Aussendeck abtrennen. An der Detailgestaltung – insbesondere an der Dämmung – habe das Kompetenzzentrum Fassaden- und Metallbau der Hochschule Luzern sehr stark mitgewirkt. «Mit der heutigen Lösung entstehen weniger Wärmebrücken. Damit geht weniger Energie ungenutzt verloren», erklärt Ueli Zihlmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kompetenzzentrums. Im Sommer könne zudem weniger Hitze eindringen. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Bis zur Jungfernfahrt der MS 2017 vergehen noch fast zwei Jahre. Im Moment glüht in der Werft noch der Schweissbrenner, und es riecht nach frischer Farbe.
Blick hinter die Kulissen
Wer sich für den Bau der MS 2017 interessiert, kann am Samstag, 21. November 2015 die Werft besuchen. Aus Sicherheitsgründen darf sie am „Tag der offenen Tür“ jedoch nur mit Führung betreten werden. Anmeldung ab September: www.lakelucerne.ch
Autorin: Mirella Wepf