Noch ist im Kontrollraum an der Seestrasse 41 in Hergiswil alles ruhig. Alexandra Deschwandens Team vom User and Support Center Biotesc bringt letzte Korrekturen an den Manuals für das Astronautenteam an, das im März auf der Internationalen Raumstation (ISS) Experimente mit Immunzellen und menschlichen Stammzellen durchführen wird. Die italienische Astronautin Samantha Cristoforetti und der amerikanische Astronaut Scott Kelly erhalten mit den Anleitungen von Biotesc präzise Instruktionen. Pro Jahr betreuen Alexandra Deschwanden und ihr Team im Auftrag der European Space Agency (ESA) zwei bis drei Experimente, die im All durchgeführt werden. «Wir geben den Astronauten den genauen zeitlichen Ablauf und Sicherheitsvorkehrungen für die Untersuchungen vor», sagt sie.
Immunschwäche und Knochenschwund
Schwerelosigkeit setzt bei Astronauten ähnliche Zellveränderungen in Gang wie bei älteren Menschen oder bei gewissen Erkrankungen. Zu beobachten sind etwa eine Schwächung des Immunsystems und Knochenschwund (Osteoporose). Wissenschaftler bewerben sich mit ihren Experimenten bei der ESA, um die Zellveränderungen nachzuvollziehen und neue Behandlungsmöglichkeiten sowohl für die Menschen auf der Erde als auch im All zu erforschen. Die Astronauten führen die Experimente für die Wissenschaftler auf der ISS durch. Mit dem Immunzellenexperiment wollen Schweizer Forscher herausfinden, wie die Schwerelosigkeit die Prozesse, die sich bei einer Immunreaktion abspielen, angreift. Beim Stammzellenexperiment italienischer Forscher liegt der Fokus auf dem Knochenschwund. «Dieser läuft im All mit etwa 1 bis 2 Prozent Knochendichteverlust pro Monat viel schneller ab als bei Frauen in der Menopause auf der Erde mit 2 bis 3 Prozent pro Jahr. Er kann im All sozusagen im Zeitraffer beobachtet werden», erklärt Deschwanden. Die Experimentboxen gelangen mit unbemannten SpaceX- oder bemannten Sojus-Raketen entweder vom amerikanischen Raketenstartplatz Cape Canaveral oder vom russischen Weltraumbahnhof in Baikonur (Kasachstan) aus auf die ISS.
Vielfältiger Würfel
Biotesc ist eine Abteilung des Kompetenzzentrums Aerospace Biomedical Science and Technology der Hochschule Luzern. Die Betreuung der Experimente ist ein Aufgabenbereich der Abteilung, zudem ist das Team für verschiedene Infrastruktureinheiten verantwortlich. Die Experimente werden in der Regel im Biolab, einer fix installierten Laborstation auf der ISS, oder im portablen Brutkasten Kubik durchgeführt. Beim Kubik sorgt das Team auch dafür, dass er funktionstüchtig bleibt, beispielsweise neue Batterien oder Ersatzteile fristgerecht auf die Raumstation gelangen. Der unscheinbare Würfel kann künstlich Schwerkraft erzeugen und so die Bedingungen auf der Erde simulieren. Damit lassen sich im All Proben ohne und mit Schwerkraft vergleichen und Faktoren wie kosmische Strahlung, die auf der Erde nicht vorkommt, als Ursache für Experimentergebnisse ausschliessen. Dadurch werden die Ergebnisse, erzielt unter Schwerelosigkeit, vergleichbar mit den Ergebnissen auf der Erde. Der Kubik kann auch gute Bedingungen für lebende Zellen schaffen, etwa eine Temperatur von 37 Grad. Biologische Proben, die auf der ISS ankommen, werden jeweils möglichst rasch in den Würfel überführt.
Anleitungen für die Weltraumfotografen
Die ISS umkreist die Erde in rund 400 Kilometern Höhe mit einer Geschwindigkeit von 27’600 Kilometern pro Stunde. Der Blick auf die Welt ist nicht allein Astronautinnen und Astronauten vorbehalten. Sie fotografieren die farbige Kugel bei Tag und bei Nacht, was die Menschen «unten » zum Staunen bringt. Dass die Nachtaufnahmen gestochen scharf sind, liegt am beweglichen Fotostativ «NightPod», das die Bewegungen der Raumstation zur Erde so kompensieren kann, dass der Aufnahmepunkt fix bleibt. Dass «NightPod» richtig benutzt wird, darum kümmert sich ebenfalls Biotesc, auch indem es den Astronauten Informationen gibt, wann sie das nächtliche Lichtermeer von Tokio oder Zürich am besten fotografieren. Und wenn das Stativ beschädigt ist, erstellt Biotesc zusammen mit den Entwicklern eine Reparaturanleitung.
Verantwortung für Biologielabor
In Baikonur ist Biotesc sogar für die gesamte Einrichtung des Biologielabors im russischen Weltraumbahnhof verantwortlich. Da das Labor jeweils erst wenige Tage vor Raketenstart in Betrieb genommen wird, muss das Team Technik und Ausrüstung immer wieder neu überprüfen. Nach der Inventur informiert Biotesc die Wissenschaftler, die vor Ort die Experimente vorbereiten, was noch fehlt. Während Gerätschaften wie Mikroskope vorhanden sind, müssen sie Verbrauchsartikel wie Chemikalien und Pipettenspitzen selbst mitbringen. «Baikonur liegt mitten in der kasachischen Steppe. Wenn etwas vergessen geht, ist der Aufwand, um es zu besorgen, immens und in der kurzen Zeit, die bis zum Raketenstart übrig ist, meist unmöglich», sagt Deschwanden.
Biotesc wird immer wichtiger
Claude Nicollier war der erste und bis jetzt einzige Schweizer Astronaut im All. Doch das Land leistet nach wie vor einen wichtigen Beitrag für die bemannte Raumfahrt. «Indem das Biotesc-Team die Experimente betreut, arbeitet es an Schnittstellen mit der ESA, dem Bund und Wissenschaftlern aus den verschiedensten Disziplinen. Es ist daher ein sehr sichtbarer Teil der Schweizer Beteiligung an der ISS», hält Oliver Botta von der Abteilung Raumfahrt des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) fest. Und da auf der ISS die wissenschaftliche Nutzung vollkommen im Zentrum steht, «wird die Bedeutung von Biotesc wachsen». Im März wird Alexandra Deschwandens Team jeden Handgriff der Astronauten an den Experimenten von Hergiswil aus mitverfolgen. Bei Schwierigkeiten kann Biotesc via das Flight-Control-Team in München Kontakt mit der ISS herstellen und Samantha Cristoforetti oder Scott Kelly direkt unterstützen.
Autorin: Sarah Nigg