In der Übersicht
Die Debatten über die Entkolonialisierung in europäischen ethnografischen Museen führen zu einer Verlagerung in der Ausrichtung von deren Klangarchiven. Zunehmend wird die Idee der blossen Rückgabe und Restitution gespeicherter Aufnahmen von indigenen Gruppen überdacht, und eine Zusammenarbeit mit Vertreter:innen der Herkunftsgemeinschaften tritt in den Vordergrund. Dies betrifft sowohl die Rückgabe und «Resozialisierung» der Aufnahmen als auch die künftige Dokumentation, Archivierung und Vermittlung indigener Musik. Die Veränderungen sind eine Reaktion auf die von indigenen Kollektiven geäusserten Bedürfnisse gegenüber den Klangarchiven, ihre Vorstellungen von Eigentum an auditivem Wissen einzubringen, ihre Konzeptionen über das Zusammenspiel von materiellen und immateriellen Entitäten berücksichtigt zu sehen und einen nachhaltigen Dialog mit Vertreter:innen von Klangarchiven und Ansätzen der Kulturerbe-Forschung etablieren zu können.
Das Projekt beschäftigt sich mit der Interaktion von indigenen Gemeinschaften und Klangarchiven, konkret mit folgenden Fragen: Wie sind Prozesse des Zugangs und der technischen Reproduzierbarkeit von indigenem auditivem Wissen und dessen Zirkulation zu gestalten sowie sichtbar und hörbar zu machen, insbesondere im Hinblick auf aktuelle Digitalisierungspraktiken? Wie lassen sich indigene Vorstellungen von der Resozialisierung immaterieller und materieller Entitäten und ihrer Beziehungen zueinander in westlich geprägte Konzepte wie das des «lebendigen Kulturerbes» übersetzen? Wie können indigene Performances für die Archivierung und kooperative Ausstellungen organisiert werden?
Die Projektergebnisse werden durch akademische Artikel, eine Ausstellung in Genf, eine Konferenz und deren schriftliche Dokumentation sowie durch vorgeschlagene Richtlinien für Klangarchive zur kooperativen Dokumentation, Archivierung und Hörbarmachung von indigenem auditivem Wissen verbreitet. Die Ergebnisse werden zu den aktuellen Debatten in der Musikforschung, der Ethnomusikologie, der Anthropologie und den Museumsstudien über ontologische Rahmenbedingungen bei der Untersuchung indigener Gemeinschaften und anderer musikalischer Minderheitenkulturen beitragen.