Liebe Diplomandinnen und Diplomanden
Geschätzte Professorinnen und Professoren,
Leiterinnen und Leiter der Studienrichtungen
und des Departements der Hochschule Luzern Design & Kunst,
Sehr verehrte Gäste aus der Politik und Kultur Luzerns.
Uff.
Ja, genau, das hier ist ein sogenannter „Uff-Moment“.
Ein Moment zum Aufatmen.
Sie, liebe Diplomandinnen und Diplomanden, haben den Bachelor, haben den Master bestanden! Jetzt dürfen Sie aufatmen.
Das Ereignis ist dabei nicht das Diplom an sich, sondern die Hürde, die Sie mit dem Diplom genommen haben. Die Tatsache, dass Sie durchgehalten und zu Ende gebracht haben, was Sie mit der Diplomarbeit in Angriff genommen und sich vorgenommen haben. Daran werden Sie künftig gemessen.
Während meiner eigenen Diplomarbeit an der Universität in Wien kann ich mich gut an einen Moment erinnern, an eine kritische Phase, in der ich schier verzweifelt bin. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, verlor mich in Seitenwegen, schlitterte in grosse Selbstzweifel und war mir immer sicherer, dass ich diese Magisterarbeit nie zu Ende bringen würde. Also ging ich Hilfe suchend zu meiner Professorin in die Sprechstunde und klagte ihr mein Leid, in der Hoffnung, einen guten Rat zu erhalten, wie ich den Weg aus der Misere schaffe.
Aber was sagte die wunderbare Frau Professor Dr. Monika Meister zu mir?
„Machen Sie einfach weiter. Das ist ganz normal.“ – Normal?!
Ich war kurz davor, das Studium hinzuschmeissen, in der Gewissheit, dass aus mir niemals etwas werden kann, und das sollte normal sein?!
«So schlimm es ist, keinen Rat zu bekommen. So schlimm kann es sein, keinen geben zu dürfen.“ Sagte Bertolt Brecht. Meine Professorin wusste sehr genau, dass sie sich in dieser Situation hüten musste, mir Tipps zu geben. Denn hier ging es um meine ur-eigene Erfahrung, um die sie mich auf keinen Fall bringen durfte. „Jeder Lehrer muss lernen, mit dem Lehren aufzuhören, wenn es Zeit ist. Das ist die schwerste Kunst. Denn die wenigsten sind imstande, sich zu gegebener Zeit von der Wirklichkeit vertreten zu lassen.“ So Bertolt Brecht weiter in Me-ti, dem Buch der Wendungen.1)
Rückblickend kann ich heute sagen: Umwege erhöhen die Ortskenntnisse. Diese Phase war zwar unangenehm, aber normal. Ich hatte mich an diesem Punkt nochmals selbst neu kennen gelernt: wie ich irre und herumirre, wie ich ticke und austicke, und wie ich somit die Tücken und Fallen eines kreativen Prozesses erfahren habe, und dass ich diesen trotzdem zu Ende gebracht hatte.
Das ist die Gewissheit, die Ihnen jetzt auch niemand mehr nehmen kann.
Und dafür dürfen Sie sich jetzt kräftig auf die Schulter klopfen.
Und: ausatmen.
Es gibt im Grunde gar nichts Wichtigeres im Leben als das Ausatmen.
Wir vergessen das immerzu. Gerade in Momenten des Stresses, des mulmigen Gefühls. Dann atmen wir flach und merken es gar nicht, oder schnappen völlig unnütz nach Luft, halten die Luft sogar an, und stellen dabei fest, dass die Panik immer schlimmer wird, was unsere These des Versagens naturgemäss nur bestätigt und niemand, aber wirklich gar niemand kann uns helfen, man wusste es schon lange, aber jetzt wird es uns so richtig klar... statt dass wir – jetzt – mal einfach - ausatmen.
Im Ausatmen liegt die ganze Arbeit. Das ist das Zentrale.
Das Einatmen kommt nämlich ganz von allein.
Pranayama im Sanskrit meint die Zusammenführung von Geist und Körper durch den Atem, konkreter durch die Atemübung. Prana ist die Lebensenergie, Ayama meint kontrollieren oder auch erweitern. Pranayama ist also die Praxis der bewussten Weitung des Atems, der Regulierung der Atmung durch beständiges Üben. Die Philosphie des Atems ist rund 3000 Jahre alt. Ziel dieses Prozesses ist es letztlich eine geistige Klarheit und Konzentration zu erlangen, die einem ermöglicht, die Gedanken zu kontrollieren und das Bewusstsein frei zu machen. Und die Übung beginnt immer mit der Ausatmung.
Mit der Expiration setzt die Entspannung ein, die Ruhe, die Stille.
Bisher hatten Sie Dozentinnen und Dozenten, die Sie, so hoffe ich wenigstens, immer mal wieder daran erinnert haben. Jetzt müssen Sie sich selbst daran erinnern, einen eigenen mentalen Marker setzen. In der Dramentheorie und Dramaturgie nennt man diese Begleiter „Mentoren“. Ich habe in euren Gängen gesehen, dass ihr eure Dozentinnen und Dozenten auch so nennt. Mentoren ermutigen uns über schwierige Schwellen zu gehen, damit aus uns Heldinnen und Helden werden können. Und so wird Ihnen vielleicht im Nachhinein langsam bewusst, so ein Bachelor und so ein Master - das ist neben allem Handwerklichen und Fachlichen und Theoretischem und Künstlerischem – eben auch identitätsstiftend und identitätsbildend. Ein Studium ist – im besten Falle – eben auch eine Lebensschule. A school for life. A School of Life.
Reife bedeutet, Bewältigungskapazitäten zur Hand zu haben. Wir können mit Dingen fertig werden, die uns zuvor aus der Bahn geworfen hätten. Der Philosoph Alain de Botton hat entsprechend dieser Idee der nützlichen Bewältigungsstrategien für die Anstrengungen des modernen Lebens eine School of Life in London gegründet. Er gibt da auch eine Reihe von Heften heraus, die sich mit den praktischen Fragen der Alltagsbewältigung und der Lebensführung beschäftigen.
Eines dieser unterhaltsam tiefgründigen und lebensfrohen Booklets heisst: Wie man Erfüllung im Beruf findet - How to Find fulfilling Work.2) Darin beschreibt der Autor, dass der Wunsch nach einer sinnstiftenden und befriedigenden Arbeit, die unsere Werte, unsere Passion und unsere Persönlichkeiten widerspiegelt, eine gänzlich moderne Erfindung ist. In den Diktionären des 18. Jahrhunderts zum Beispiel erscheint das Wort „Erfüllung“ gar nicht. Über Jahrhunderte waren die Menschen in erster Linie nur damit beschäftigt, ihre täglichen existentiellen Grundbedürfnisse zu sichern.
Heute ist das anders. Wir leben in einer „new age of fulfilment“. Und damit einhergehend setzen wir uns ganz anders unter Druck... Mit den hohen Erwartungen an den Beruf geht eine grundlegende Verunsicherung über die richtige Berufswahl einher, eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Arbeit und Burn Out prägen unsere Multioptionsgesellschaft.
Wir sind ständig „overbooked“, „overloaded“, „overrun“.
Es ist also ratsam, seine Optionen radikal zu beschränken. Nicht umsonst erfinden kluge Künstlerinnen und Künstler Restriktionen und Rituale, um im Chaos des Lebens eine Ordnung zu schaffen, damit in der Gewohnheit und Kontinuität einmal doch Neues entstehen kann.
Geduld ist nicht aufregend. Langeweile aber nützlich.
Berufung ist nichts, was über einem kommt wie ein heiliger Gral.
Grosse kreative Visionen basieren auf kleinen täglichen Schritten, geprägt von ritualisierten Arbeitsgewohnheiten, die sich dann auf die Arbeit selbst auswirken. Das werden Sie vermutlich bei der Diplomarbeit jetzt erfahren haben.
„Wissen Sie was Filmemachen bedeutet?“, fragte einst der grosse schwedische Filmregisseur Ingmar Bergmann einen Interviewer: „Täglich acht Stunden Schwerstarbeit für drei Minuten Film. Während dieser acht Stunden ist man, wenn man Glück hat, vielleicht zehn oder zwölf Minuten wirklich produktiv. Vielleicht aber auch nicht.“
Man kann Inspiration nicht denken, nicht erzwingen.
Sie ist auf einmal da, überkommt uns. Aber Sie haben es in der Hand, gute Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Mit der Expiration nämlich - kommt die Inspiration.
Inspiratio meint buchstäblich: das Einhauchen, hier haben wir den Atem wieder, die Eingebung, lateinisch die „Beseelung“.
Der unerwartete Einfall, der Gedankesblitz, die Lösung, die zündende Idee.
Wie singt Axel Bosse nochmal: „Ich habe gelernt, der erste Blick täuscht, und dass es gut ist, wenn man sich verläuft. Ich habe gelernt, wenn’s mies ist, geht die Sonne trotzdem auf. Dann kommt eine zündende Idee, ein frischer Wind, ein neuer Tag, dann kommt eine zündende Idee und die macht hell und dunkelwarm. Und alles ist jetzt. Es ist alles alles jetzt. Das Leben ist kurz, zu kurz für ein langes Gesicht und Stück für Stück kommt das Lachen zurück und die Freude und der Hüftschwung und das Glück. Und das was du träumst, musst du machen. Einfach machen. All die besten super Sachen. Alles ist jetzt.“
Rückblickend bereue ich heute, dass ich in meiner jugendlichen Überheblichkeit und einem falsch verstandenen Revoluzzertum die Diplom-Feier auf der Universität heruntergespielt und ich verhindert habe, dass meine Eltern mit mir an den Feierlichkeiten teilnehmen. Diese bürgerliche bourgeoise Zeremonie, wen interessiert das schon, dachte ich, Hauptsache Abschluss in der Tasche, dachte ich damals. Falsch. Sowas von falsch.
Sie sind es wert! Sie sind es sich selbst wert!
Ich bin froh, dass Sie diesen Fehler schon mal nicht machen und ich also heute hier zu Ihnen sprechen durfte, und somit vielleicht auch ein Stück meiner eigenen Diplomfeier nachholen kann.
Schön sind Sie alle da, liebe Diplomandinnen und Diplomanden.
Lassen Sie sich feiern.
Ich gratuliere Ihnen von Herzen.
Catherine A. Berger / Luzern, Juni 2019
1) Bertolt Brecht, Me-ti / Buch der Wendungen in Gesammelte Werke 12 Prosa 2, Werkausgabe Edition Suhrkamp, S.475. Frankfurt a.M., 1967.
2) Roman Krznaric: How to find fulfilling work. The School of Life. Macmillan, 2012.