Das Leben findet im Zwischenraum statt
Die Publikation «Vokabular des Zwischenraums» gibt Einblick in die Forschungsarbeit eines interdisziplinären Teams der Hochschule Luzern. Das Thema ist höchst aktuell. (Susanna Koeberle, 14. Januar 2020)
Nicht Bauten seien in der Architektur wichtig, sondern in erster Linie der Raum zwischen diesen, sagte der chilenische Architekt und Pritzker-Preisträger Alejandro Aravena in einem Interview. Was nach einer Infragestellung der Rolle der Architektur klingt, ist allerdings eine ihrer grössten Herausforderungen. Die gebaute Umgebung, zu der auch der öffentliche Raum gehört, ist eine komplexe Angelegenheit. Wenn Zwischenräume bewusst gestaltet werden, kann das auch die Bauten selber aufwerten. Gebäude sind nämlich keine festen Grössen, sondern fransen aus, sie sind gleichsam porös, da sie zwischen privat und öffentlich vermitteln. Porosität ist einer der sieben Begriffe, anhand derer ein interdisziplinäres Team der Hochschule Luzern einzelne Projekte in der Schweiz durchleuchtete.
Die Rolle des «erweiterten Fassadenraums» ist dabei zentral, wie in der Einleitung ausgeführt wird. Die Polarität zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist insofern künstlich, als dass sich unser Alltag stets zwischen diesen Polen abspielt: Das ist grob zusammengefasst die These, die hier vorgelegt wird. Das Bedürfnis nach Rückzug und Abgrenzung ist genauso wie dasjenige nach Gemeinschaft und sozialem Austausch urmenschlich, auch wenn sich diese Ansprüche je nach Lebensphase und soziokulturellem Kontext verändern können. Sie wandeln sich aber auch im Laufe der Zeit. Dies zeigt sich sowohl in der Art, wie wir unsere Wohnräume organisieren, als auch in der Handhabung öffentlicher Räume. Ein Beispiel: Wem gehört die Wiese vor dem Haus? Solche Fragen bergen Potenzial für Konflikte und ermöglichen zugleich geteilte Geselligkeit.
Die Publikation zeigt beispielhaft, wie Zwischenräume gestaltet werden und welche Themen dabei zentral sind – nicht nur, was die Architektur an sich betrifft, sondern auch aus Sicht der Bewohner*innen. Dass die Benutzer*innen selber zu Wort kommen, ist keine Selbstverständlichkeit. Der architektonische Diskurs wird meist unter Spezialist*innen ausgetragen, obwohl das Thema ja alle etwas angeht. Wie sich Bewohner*innen Räume aneignen und welche Strategien sie dabei verwenden, wird beobachtend festgehalten, ohne zu werten.
Das Buch versteht sich als «inspirierendes Nachschlagewerk», das zum kreativen Umgang mit diesem Thema beitragen soll. Entlang der sieben Begriffe «Porosität», «Tarnung», «Alternativen», «Kompensation», «Ambivalenz», «Intervall» und «Flirt» (!) entsteht ein dichtes Feld an Referenzen. Zu Beginn jedes Kapitels finden Leser*innen philosophische wie auch sachliche Definitionen der Begriffe, dann folgen die einzelnen Fallstudien unter diesem Gesichtspunkt betrachtet; das wird stets mit Bildmaterial belegt. Ergänzt werden die Seiten mit Zitaten von Bewohner*innen. Anschliessend stellen die Autor*innen die Projekte nochmals gesondert vor. Das ist keineswegs eine Doublette, sondern umreisst das Thema einfach aus einer anderen Perspektive. Es macht das Buch zu einem Werkzeug, das gleichermassen Architekt*innen wie auch Laien anspricht.