Zwischenraum lebenspraktisch
Wer von Verdichtung redet, muss auch über den Zwischenraum sprechen. Die Autoren finden mit ihrem «Vokabular des Zwischenraums» endlich eine Vertiefung ins Lebenswirkliche, sagt der Stadtwanderer. (Benedikt Loderer 30.09.2019)
Wer von Verdichtung redet, muss auch über den Zwischenraum sprechen. Genauer, über die Furcht vor dem Nachbarn. Der nämlich kommt mir zu nahe, er guckt in meine Küche oder gar in mein Schlafzimmer. Hierzulande sind die Leute überzeugt, dass nur genügend Abstand den Frieden garantiert. Darum leben auch alle Hüslimenschen in ungestörtem Landesfrieden. Was aber, wenn wir verdichtet bauen, mit einer Ausnützung zwischen 1,0 und 2,0? Da gilt es zu filtrieren. Im «Vokabular des Zwischenraums» schlagen Angelika Juppien und Richard Zemp sieben Stichworte dafür vor: Porosität, Tarnung, Alternativen, Kompensation, Ambivalenz, Intervall und Flirt. Diese sieben Vokabeln deklinieren sie an sechs gebauten Beispielen durch: Dreieck, Limmatwest, Talwiesen-Binz, Tiefenbrunnen, in Zürich, Zwicky Süd in Dübendorf und Himmelrich II in Luzern. Was lehrt das Wörterbuch? Wie sehr der Übergang von aussen nach innen, von öffentlich zu privat mehrschichtig ist. Raumhaltig muss er sein, vielgestaltig und bewohnerfreundlich. Anders herum, das Gegenteil des scharfen Schnitts.
Das kommt mir so bekannt vor. Christopher Alexander mit «A Pattern Language» von 1977 oder Paul Hofers «dialogischer Stadtentwurf» im Tandem mit Bernhard Hoeslis Semesteraufgaben in Wettingen Ende der Siebzigerjahre haben dieses Thema bereits vorausgenommen. Darauf folgte ein Schweigen während 40 Jahren. Doch nun ist, endlich, das Thema Zwischenraum wieder erwacht und hat mit diesem Vokabular eine Vertiefung ins Lebenswirkliche gefunden. Nicht die Verschränkung von Hohl und Voll steht diesmal im Vordergrund, sondern die praktische Erfahrung. Was sagen die Bewohnerinnen? Wie nützen sie, was die Architekten ihnen anbieten? Welchen Einfluss haben die Verwaltung und die Hausordnung? Es ist Feldforschung, was hier vorgestellt wird, erarbeitet durch Nachfragen und Nachschauen. Zwar ist es ein Buch von Architekten, doch ist es nicht architektisch, sondern neugierig. Was funktioniert wie und warum?
Das Buch sagt mehr über die Hülle als den eigentlichen, den städtebaulichen Zwischenraum. Nicht die Art des Hofs oder der Gasse oder die Raumfolge stehen im Mittelpunkt. Städtebau wird besichtigt, nicht entworfen. Die Frage, wann ist es zu eng, wird nicht gestellt? Eher umgekehrt, wie lässt sich die Enge mildern, überspielen, tarnen? Das Medium ist die Fassade. Sie wird als eine tiefe, mehrlagige Schicht beschrieben, eine Zone des Übergangs, keine dünne, undurchdringliche Haut die das Gebäude hermetisch einpackt, einen Container daraus macht. Im Gegenteil, «Die Baukörper sind nicht gepanzert, sondern gestaffelt, durchlässig, geschichtet», wie Hofer 1979 feststellte. Dem fügen Juppien und Zemp nun bei: «Es ist die Räumlichkeit der Fassade, welche die Übergänge zwischen öffentlichen und privaten Sphären bildet». Ihr Augenmerk ist auf die Bewohner gerichtet. Wann fühlen sie sich wohl, wann sind sie im Innern geschützt genug und wann wollen sie am Draussen teilhaben? Nach der Lektüre wünscht sich der Stadtwanderer weniger Aussenhaut und mehr Übergangstiefe im Wohnungsbau.