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Die Zürcher Seidenindustrie stieg im 19. Jahrhundert zu einer der erfolgreichsten Branchen der Schweizer Wirtschaft auf. Rohseide wurde importiert, zunächst aus Europa, ab 1866 auch aus Ostasien, insbesondere Japan. Während Zürcher Handelshäuser bei der Integration des fernöstlichen Landes in die Weltwirtschaft eine wesentliche Rolle spielten, waren rund um den Zürichsee zehntausende Arbeitskräfte in die Verarbeitung von Seide eingebunden. In modeorientierten Betrieben wurden saisonal neue Kollektionen entworfen, deren Design neueste Trends ebenso berücksichtigte wie lokale Vorlieben. Über Verkaufsbüros von New York bis St. Petersburg gelangten die luxuriösen Stoffe zu Konsumenten auf der ganzen Welt. Um Zollschranken zu umgehen und näher an Kunden und Absatzmärkte zu gelangen, errichteten Zürcher Seidenfabrikanten seit den 1870er Jahren Tochterfirmen in Europa und den USA.
Mit einer Jahresproduktion von über 50 Millionen Metern zählte Zürich um 1900 gemeinsam mit Krefeld, Como und Lyon zu den führenden Zentren der europäischen Seidenindustrie. Von Rohstoffbörsen über Ausbildungs- und Prüfanstalten bis hin zu den verarbeitenden Industrien etablierte sich in und um Zürich ein lokal verankertes und global vernetztes Branchencluster. Während die Zürcher Seidenindustrie im Ersten Weltkrieg noch hohe Gewinne erzielte und einige Firmen zu internationalen Grosskonzernen heranwuchsen, brachte die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren schwere Verluste. Mit Hilfe von Restrukturierungsprogrammen erholten sich einige der traditionsreichen Unternehmen und hielten die Textilproduktion bis ins späte 20. Jahrhundert mit spezialisierten Produkten wie Kleider-, Krawatten- und Möbelstoffen aufrecht. Ab den 1990er Jahren führten Globalisierung und Deindustrialisierung zur Schliessung der letzten Zürcher Seidenwebereien. Textil- und Handelsdienstleister sowie andere Spezialisten konnten sich bis heute halten.
An der HSLU untersucht eine Historikergruppe erstmals Aufstieg, Niedergang und Erbe der Zürcher Seidenindustrie unter Berücksichtigung von schriftlichen, visuellen und materiellen Quellen. Grundlage bildet ein gutes Dutzend neu zugänglicher Firmenarchive, die mit wirtschafts-, sozial- und kulturhistorischen Ansätzen ausgewertet werden. Die schriftlichen Archive werden durch das Staatsarchiv des Kantons Zürich, die textilen Bestände durch das Schweizerische Nationalmuseum konserviert, inventarisiert und erschlossen. Die Forschergruppe ergänzt Archivdokumente mit Zeitzeugeninterviews und nutzt Erkenntnisse und Synergien, die sich aus dem anwendungsorientierten Forschungsprojekt „Silk Memory“ ergeben. Ziel ist eine umfassende Buchpublikation zur Geschichte der Zürcher Seidenindustrie seit 1800. Das Projekt wird gefördert vom Lotteriefonds des Kantons Zürich und der Zürcherischen Seidenindustrie Gesellschaft.