Interessieren sich Hörerinnen und Hörer klassischer Musik überhaupt noch für Musikkritiken? Und wenn ja, was macht eine gute Rezension für sie aus? Diesen und weiteren Fragen ging ein Forschungsteam der Hochschule Luzern und der Universität Sheffield mit einer Online-Umfrage nach, die zwischen Januar 2017 und März 2018 auf deutsch- und englischsprachigen Web-Plattformen aufgeschaltet war. 1’200 Personen aus 62 verschiedenen Ländern, die klassische Musik regelmässig oder gelegentlich hören, nahmen daran teil; das Altersspektrum reichte von 17 bis 85 Jahren. «Viele der Teilnehmenden haben keine vertiefte musikalische Ausbildung. Bei den meisten handelte es sich um Hörerinnen und Hörer mit einem eher breiten Musikgeschmack und einem lebhaften Interesse an Klassik», sagt Co-Projektleiterin Elena Alessandri vom Departement Musik der Hochschule Luzern.
Freunde, Radio und Musikmagazine haben am meisten Einfluss
In einem ersten Schritt wurde gefragt, welche Medien und Kanäle zum Hören von klassischer Musik genutzt werden. Die Hälfte die Studienteilnehmenden (54%) hört Klassik oft oder sehr oft auf CD. Damit sind CDs immer noch doppelt so beliebt wie Spotify (28%) oder iTunes (21%). Immerhin jeder Zehnte hört Klassik für gewöhnlich auf Langspielplatten. 56 Prozent der Teilnehmenden nutzen regelmässig Youtube und genauso viele MP3 oder andere Dateiformate. Dazu passt, dass 45 Prozent aller Hörerinnen und Hörer nie für klassische Musik bezahlen. «Es kann sein, dass sie dabei Geld für bereits gekaufte Tonträger nicht berücksichtigen», erklärt Elena Alessandri.
«Klar ist aber: Der Musikmarkt wird durch die verschiedenen Technologien immer komplexer und vielfältiger.» Um Orientierung zu finden, nutzen rund zwei Drittel oft oder sehr oft Informationen aus dem Radio (67%) oder fragen Bekannte bzw. Freunde um Rat (58%). Letztere haben dabei den grössten Einfluss auf die Wahl und die Beurteilung von Musik (67%), gefolgt von Radio-Sendungen (66%) und Musikmagazinen (50%).
Zwei Drittel der Klassikfans lesen oder hören Musikkritiken
Die Online-Umfrage ergab weiter, dass 62 Prozent der 1’200 Teilnehmenden (741 Personen) Profi-Musikrezensionen regelmässig nutzen. «Das hat uns positiv überrascht», sagt Elena Alessandri. «Tatsächlich werden Musikkritiken immer noch gelesen oder gehört. Allerdings bringen diese Klassikfreunde im Schnitt auch eine höhere musikalische Bildung mit.»
Was sie von einer lesens- oder hörenswerten Kritik erwarten, wurde in einem zweiten Schritt gefragt. Das Resultat: Vier von fünf Musikfreunden finden, Kritiken sollten konstruktiv, respektvoll, aufgeschlossen und unparteiisch informieren. «Zudem», so Co-Projektleiter, Antonio Baldassarre, «wird eine gut begründete Bewertung erwartet. Beispielsweise müssen die Beurteilungen über eine Interpretation oder den Klang nachvollziehbar sein.» Etwa zwei Drittel der Klassikfans lesen gerne Vergleiche mit anderen Aufnahmen, ebenso viele lassen sich von einer klaren und packenden Schilderung überzeugen.
«Die Kritikerinnen und Kritiker sollen bei all dem keine Autoritätspersonen sein, die normative Urteile fällen», ergänzt Elena Alessandri. «Vielmehr seien sie als Experten und Unterhalterinnen gefragt, die Musik differenziert erklären und mit Leidenschaft nahebringen.» Rezensionen würden damit als Leitfaden für das Hören und Kaufen dienen und den Konsumentinnen und Konsumenten helfen, die Aufnahmen besser einzuschätzen.
Begleitende Interviews mit Musikkritikern zeigten deutlich deren Verunsicherung über die Bedeutung und Wirkung ihrer Arbeit, so Alessandri. «Dabei lässt sich mit den Ergebnissen der aktuellen Studie deutlich sagen: Kritiken spielen eine wichtige Rolle, die klassische Rezension darf nicht aussterben, das Publikum liest sie oft und gern.» Jedoch, räumt das Forschungsteam ein, wäre es folglich spannend zu wissen, was eine Kritikerin bzw. ein Kritiker tun müsse, um jene Klassikfans zu erreichen, die sich bisher noch nicht für Musikkritiken begeistern.
Umfassende Forschung zur Bewertung von klassischer Musik
Das Forschungsprojekt «Between Producers and Consumers: Music Critics’ Role in the Classical Music Market» wurde mitfinanziert vom Schweizerischen Nationalfonds SNF. Es ist Teil einer grösseren Forschungsreihe über die Rolle von Musikkritik im Klassikmarkt. In früheren Projekten wurden über 800 Rezensionen aus dem britischen Klassikmagazin «Gramophone» untersucht und daraus Kriterien für das Bewerten einer Musikaufnahme entwickelt. In einem nächsten Schritt analysiert die Forschungsgruppe publizistische Rezensionen in Zeitungen. Mit dabei ist dann auch wieder die Universität Sheffield mit der dortigen Projektleiterin Victoria Williamson.
Weitere Informationen finden sich hier: www.hslu.ch/reviewimpact