Die Noten werden plötzlich viel schlechter, die Mitschüler müssen Prügel einstecken, die Schülerin schläft im Unterricht ein, der Schüler hat oft blaue Flecken. Es gibt ganz verschiedene Anzeichen dafür, dass Kinder und Jugendliche grössere Probleme haben. Lehrpersonen sind meist die ersten, denen dies auffällt. Scheint ein Schüler oder eine Schülerin auf Hilfe angewiesen zu sein, besteht die Möglichkeit, die Kindesschutzbehörde darüber zu informieren. Ein Team der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit hat im Projekt «Gefährdungsmeldungen durch Schulen und schulische Dienste» analysiert, wann Schulen eine Gefährdungsmeldung machen. Dafür haben rund 550 Vertreterinnen und Vertreter von Schulleitung, Schulsozialarbeit und Schulpsychologie der Kantone Aargau, Basel-Landschaft, St. Gallen, Bern, Schaffhausen und Solothurn online Fragen beantwortet. Zudem wurden in der gesamten Deutschschweiz Interviews geführt sowie in Zürich und der Zentralschweiz über 230 neue Fälle von festgestellten Gefährdungssituationen bei Kindern und Jugendlichen auf ihren Status hin untersucht.
Art der Gefährdung und Sozialstatus haben Einfluss
Die Auswertung zeigt, dass vor allem das Verhalten der Eltern einen grossen Einfluss auf den Entscheid hat, ob die Schule einen Fall an die Behörde weiterleitet oder nicht. «Sind Eltern uneinsichtig und nicht bereit, eine Lösung mitzutragen, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdungsmeldung um ein Vierfaches», sagt Projektleiter Andreas Jud. Bei unmittelbar lebensbedrohenden Situationen (z.B. Suizidgefahr) oder bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch und körperliche Misshandlung liegt die Wahrscheinlichkeit dreimal höher. Um ein Fünffaches erhöht ist sie, wenn externe Fachpersonen (u.a. Kinderärzte, Psychotherapeuten) mit Hinweisen an die Schule gelangen. Ein wichtiger Faktor ist zudem der sozioökonomische Status der Eltern: Ist eine Familie mit geringem Status betroffen, wendet sich die Schule eher an die Behörde als bei einer Familie mit einem hohen. «Es ist möglich, dass hier Vorurteile gegenüber sozial Schwächeren eine Rolle spielen», sagt Jud. Andererseits zeigten verschiedene Studien, dass es bei Familien mit tiefem sozioökonomischem Status zu Hause vermehrt zu Stresssituationen komme – unter anderem wegen fehlendem Geld oder knappen Wohnverhältnissen. Einer der bedeutendsten Faktoren im Entscheid für oder gegen eine Gefährdungsmeldung bleibt aber die Kooperationsbereitschaft der Eltern. «Dabei ist Kooperation nicht gleich Kooperation», sagt Andreas Jud. Die Studie macht deutlich, dass Lehrpersonen oder Sozialarbeitende teilweise jahrelang von einer Meldung absehen, auch wenn sich die Situation kaum verbessert. «Die elterliche Mitarbeit ist somit stets kritisch zu hinterfragen. Es darf nicht nur leere Versprechungen geben.»
Gefährdungsmeldung gilt als «Ultima Ratio»
Es gibt weitere Gründe, weshalb schulische Fachpersonen Fälle nicht den zivilrechtlichen Einrichtungen weiterleiten – obschon in den meisten Gefährdungssituationen die Option einer Meldung oft über längere Zeit im Raum steht: So wird eher von einer Meldung abgesehen, wenn negative Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der zuständigen Stelle gemacht worden sind. Es gibt auch Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende, die Angst haben mit vermeintlich ungerechtfertigten Gefährdungsmeldungen einen schlechten Eindruck bei der Behörde zu hinterlassen. Auch Wechsel bei den Lehrpersonen und in den schulischen Diensten können dazu führen, dass Fälle nach hinten verschoben werden. Überraschend war schliesslich die Erkenntnis, dass die Abneigung gegen das Instrument Gefährdungsmeldung einigermassen gross ist. «Wiederholt wurde von der Gefährdungsmeldung als ‹ultima ratio› gesprochen», sagt Jud. Er erklärt sich das mit der nach wie vor starken Wahrnehmung der Kindesschutzbehörde als staatliche Interventionsbehörde und dem tief verwurzelten Bild, dass der Staat die Kinder wegnimmt.